
Die neue Urbanisierung
Ziehen als Folge der Corona-Krise die Menschen aufs Land? Manche Experten vermuten dies. Doch eine genauere Betrachtung zeigt: Die Großstädte und ihr Umland werden auch in Zukunft nicht an Attraktivität verlieren.
Manchmal können sich Einschätzungen verblüffend schnell ändern. Die Corona-Krise hatte Europa erst wenige Tage im Griff, da wollten erste Experten bereits einen grundlegenden Paradigmenwechsel erkennen: Das Zeitalter der Urbanisierung sei vorbei, erklärten sie. Denn die Innenstädte verlören wegen ihrer Dichte und der damit verbundenen Ansteckungsgefahr an Attraktivität, während der ländliche Raum der neue Sehnsuchtsort werde. „Die Menschen haben sehr viel Zeit zu Hause verbracht und spüren damit deutlich, wie sie in Zukunft wohnen möchten“, ließ sich beispielsweise Michael Heming verlauten, der Präsident von Fiabci Deutschland, einem globalen Dachverband immobilienwirtschaftlicher Berufe. „Dabei merken viele, was ihnen in der Stadt fehlt, nämlich die Luft zum Atmen und der persönliche Freiraum auch draußen.“ Die Folge sei ein steigendes Interesse an Häusern auf dem Land.
Sollte diese Einschätzung zutreffen, würde dies eine grundlegende Neuordnung des Raumgefüges bedeuten. Denn seit Jahren gilt eigentlich die Urbanisierung als zentraler Trend. Laut der Studie „Cities in the World: A New Perspective on Urbanisation“ der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat weltweit die Zahl der Stadtbewohner zwischen 1975 und 2015 von 1,5 auf 3,5 Milliarden zugenommen. Im Jahr 2050 werden voraussichtlich sogar mehr als fünf Milliarden Menschen in Städten wohnen.
Besonders deutlich zu erkennen war diese Entwicklung im letzten Jahrzehnt in Deutschland. München, Leipzig, Berlin, Hamburg – diese und viele andere Städte haben markant an Einwohnern gewonnen und dabei insbesondere Neubürger aus dem ländlichen Raum angezogen. Im Gegenzug verzeichnen die peripheren Regionen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, einen kontinuierlichen Bevölkerungsverlust.

Ländlicher Raum vor einer Renaissance?
Könnte sich das jetzt ändern? Der ländliche Raum sei bis vor Kurzem eine „Projektionsfläche für Dystopien der Schrumpfung und des Verfalls“ gewesen, stellt Stefan Schneider fest, Projektleiter beim Deutschen Institut für Urbanistik (Difu). Dabei lägen die Vorteile des ländlichen Raums eigentlich auf der Hand: „viel Platz und günstiger Wohnraum, Entfaltungsmöglichkeiten für Individualisten, Natur oder zumindest unversiegelte Kulturlandschaften“. Noch weiter geht das renommierte Zukunftsinstitut, wenn es ein extremes Szenario entwirft: „Wer kann, zieht raus aus der Stadt, versorgt sich selbst – und verdient gutes Geld, indem er verarmte Städter mit Lebensmitteln versorgt.“
Tatsächlich sind die Publikumsmedien voll von Berichten über Städter, die auf dem Land ihr Glück suchen. Solche Einzelfälle seien jedoch „immobilienwirtschaftlich bedeutungslos“, urteilt Andreas Schulten, Generalbevollmächtigter beim Analysehaus Bulwiengesa. Viel spannender ist für Schulten die Frage, wie es gelingen kann, kleinere Städte attraktiv zu machen. „Denn volkswirtschaftlich“, argumentiert der Experte, „ist es unsinnig, komplette Städte aufzugeben, während gleichzeitig die Metropolen aus allen Nähten platzen.“

Der Einfluss des Homeoffice
Die Chance, dass Standorte außerhalb der Zentren der Metropolen an Beliebtheit gewinnen, könnte sich infolge der Corona-Krise erhöhen. „Durch einen stärkeren Ausbau der digitalen Infrastruktur und die Durchsetzung von Homeoffice-Arbeitsmodellen steigt die Attraktivität des ländlichen Raums, und die Polarisierung zwischen Stadt und Land kann sich verringern“, sagt Angela Mensing-de Jong, Professorin für Städtebau an der Technischen Universität Dresden. Auch Difu-Experte Stefan Schneider weist darauf hin, dass der „Corona-Innovationseffekt“ die bisherigen Nachteile des Lebens außerhalb der Stadtzentren ausgleiche: „Durch neue digitale Angebote sind Kultur- und Bildungsangebote und das Leben im Grünen plötzlich kein Gegensatz mehr.“
Dabei wirkt sich auch die zunehmende Akzeptanz des Homeoffice und des mobilen Arbeitens (Remote Working) aus. „Wenn die Mitarbeiter nicht mehr jeden Tag in ihr Büro in der Innenstadt fahren müssen, gewinnt das Umland der Ballungszentren auch als Wohnort an Bedeutung“, sagt Peyvand Jafari, geschäftsführender Gesellschafter der im Wohn- und Büroimmobiliensegment tätigen Plutos Group. Zwar erwartet Jafari keine radikale Umstellung auf das Homeoffice. Verstärken wird sich aber seiner Ansicht nach der Trend zum mobilen Arbeiten. „Und dieser“, sagt Jafari, „wird dazu führen, dass in den Randlagen der Großstädte eine andere Art des Coworking entstehen wird.“ Konkret: Unternehmen werden in diesen Coworking Spaces neuen Typs beispielsweise fünf Arbeitsplätze für 15 Mitarbeiter anmieten, die in der Nähe wohnen.
Büros könnten von den Innenstädten in die Vororte verlegt werden, wo die Flächen günstiger seien, sagt auch Michael Voigtländer, Immobilienexperte beim Institut der deutschen Wirtschaft in Köln. Dem widerspricht Bulwiengesa-Experte Andreas Schulten, wenn er sagt: „Dezentrale Büroflächen werden nicht die Profiteure der Krise sein.“ Ein Unternehmen wie der vor Kurzem in den bedeutendsten deutschen Aktienindex Dax aufgestiegene Essensvermittler Delivery Hero, das junge, trendige Mitarbeiter gewinnen will, kann laut Schulten „nun einmal nicht im Berliner Plattenbaugebiet Hellersdorf sitzen“. Wenn jetzt Großunternehmen wie Allianz und Siemens ankündigten, ihre Mitarbeiter im Homeoffice arbeiten zu lassen, so sei das primär „PR-Getöse“ – schließlich hätten schon vor der Corona-Krise viele Mitarbeiter mobil gearbeitet.
Büros könnten von den Innenstädten in die Vororte verlegt werden, wo die Flächen günstiger seien
Der Speckgürtel wird feister
Ohnehin weist Schulten darauf hin, dass das Bild, sämtliche Menschen zögen in die Großstädte, schief sei. Im Gegenteil sei eigentlich die Suburbanisierung, also der Trend in die Vororte, in Deutschland der Normalzustand, sagt der Experte. „Die Reurbanisierung, die ungefähr von 1995 bis 2015 zu beobachten war, war eine Ausnahmesituation und darauf zurückzuführen, dass in den Städten ausreichend günstiger Wohnraum zur Verfügung stand“, erläutert Schulten. Seit die Wohnungspreise in den Innenstädten wieder stiegen, wichen die Menschen vermehrt ins Umland aus.
„Bereits seit 2018 können die Randbereiche der Städte teilweise starke Bevölkerungsgewinne verzeichnen“, bestätigt Thomas Beyerle, Chefresearcher des schwedischen Investmentmanagers Catella. Das bedeutet: Der Zug in den städtischen Raum wird anhalten – wobei dieser städtische Raum nicht nur die Kernstädte umfasst, sondern auch die umliegenden Gemeinden sowie Kleinstädte im weiteren Umfeld, die mit dem öffentlichen Nahverkehr gut an die Metropolen angebunden sind.
Diese Entwicklung ist im Übrigen keineswegs auf Deutschland beschränkt: Laut den Catella-Researchern ist davon auszugehen, „dass auch auf europäischer Ebene die Abwanderungsraten aus dem ländlichen Raum zunehmen und im Umkehrschluss die Zuwanderungsraten in den Großstädten sowie deren Speckgürteln weiter zunehmen werden“. Corona wird also wohl doch nicht dafür sorgen, dass die Karten neu gemischt werden müssen.
Von Christian Hunziker