
Bahn frei für neue Stadtteile
Es ist nicht lange her, da galten Bahnhofsviertel als No-go-Areas, die von Prostitution und Drogenhandel dominiert waren. Doch mittlerweile bilden in ganz Europa neu errichtete oder sanierte Hauptbahnhöfe den Mittelpunkt urbaner, gemischt genutzter Stadtviertel, die insbesondere von anspruchsvollen Büronutzern geschätzt werden.
Als im Oktober 2014 der neue Wiener Hauptbahnhof feierlich eröffnet wurde, war das für die österreichische Hauptstadt ein epochales Ereignis. Drei für Europa wichtige Bahnverkehrsachsen kreuzen hier, und natürlich sind auch die lokalen Verkehrsmittel angebunden. Doch der schicke Hauptbahnhof ist weit mehr als ein Verkehrsknotenpunkt: Er ist der Mittelpunkt eines neuen, 109 Hektar großen Stadtteils mit Läden und Restaurants, Bürogebäuden, Hotels, Schulen und einem Wohnviertel für 15.000 Menschen.
Mit dieser Entwicklungsmaßnahme ist Wien kein Einzelfall. Auch in anderen europäischen Großstädten bekommen Bahnhöfe eine neue Bedeutung als Zentrum urbaner, lebendiger, gemischt genutzter Viertel. Ob in Zürich oder Berlin, ob in London oder Rotterdam, ob in Lyon oder vielen anderen Städten – die Bahnhöfe und ihr Umfeld wandeln sich und gewinnen so auch für die Immobilienwirtschaft an Bedeutung. „Die Haltung gegenüber Verkehrsimmobilien hat sich grundlegend verändert“, stellt Günter Vornholz fest, Professor für Immobilienökonomie an der EBZ Business School in Bochum. „Immer mehr Marktteilnehmer erkennen die Chancen, die darin liegen, rund um die Verkehrsfunktion weitere Nutzungen anzusiedeln.“
„Renaissance der Bahnhöfe“
Von solchen Chancen war jahrzehntelang nichts zu spüren gewesen. Ganz im Gegenteil: Das Umfeld der großen Bahnhöfe galt als Ort, um den man besser einen großen Bogen machte. „Nicht wenige Bahnhofsviertel sanken zu Rotlicht- und Rauschgiftbezirken ab“, schrieb Heinz Dürr, der damalige Chef der Deutschen Bahn, schon 1996 in der Begleitpublikation zu einer Ausstellung mit dem programmatischen Titel „Renaissance der Bahnhöfe“. Zudem, so Dürr weiter, wurden nach dem Zweiten Weltkrieg zahlreiche Bahnhofsgebäude „entweder rücksichtslos abgerissen oder in gesichtslose Zweckbauten umgewandelt“.
Dabei waren die Bahnhöfe im 19. Jahrhundert ursprünglich als wahre Prachtsbauten konzipiert worden, die auch auf das Umfeld ausstrahlten. „Man wird sich heute kaum vorstellen können, dass in den Gründerjahren Bahnhöfe Ia-Lagen erzeugten“, hält der renommierte Architekt Meinhard von Gerkan fest. „In ihrem direkten Umfeld und in ihrer Nähe lagen die nobelsten Hotels, die feinsten Geschäfte, befanden sich die repräsentativsten Büros und die feudalsten Wohnungen.“ Die Kaiserstraße beispielsweise, die in Frankfurt am Main den Bahnhof mit der Innenstadt verbindet, war im 19. Jahrhundert eine der repräsentativsten Adressen der Bankenmetropole – um dann gegen Ende des 20. Jahrhunderts zum sozialen Brennpunkt zu verkommen.
Ganz anders das in Entstehung begriffene Quartier rund um den Wiener Hauptbahnhof: Es gilt schon jetzt als eine der besten Büroadressen der österreichischen Hauptstadt. Die Österreichischen Bundesbahnen haben hier ihre Konzernzentrale errichtet, und die Erste Group Bank AG hat einen 117.000 Quadratmeter großen Komplex bezogen. Zudem realisiert der österreichische Projektentwickler UBM Development AG gemeinsam mit der S Immo AG das Quartier Belvedere Central mit Büros, Hotels und Wohnungen. Eines dieser Gebäude, das Büroprojekt QBC 3 mit 7.600 Quadratmeter Mietfläche, hat Union Investment lange vor der für Herbst 2017 geplanten Fertigstellung für seinen offenen Publikumsfonds UniImmo: Global erworben. „Durch neue, urbane Lebensformen erfahren Lagen rund um die Hauptbahnhöfe europaweit eine deutliche Aufwertung“, sagt Philip La Pierre, Leiter Investment Management Europa der Union Investment Real Estate GmbH. „Dieser Trend ist auch an der aktuellen Quartiersentwicklung in Wien ablesbar. Daher haben wir uns das erstklassige Bürohaus QBC 3 vorausschauend gesichert.“
Ein weiteres bemerkenswertes Projekt im unmittelbaren Umfeld eines Bahnhofs hat Union Investment zu Beginn dieses Jahres übernommen: das von The Carlyle Group entwickelte Projekt Grand Central im Zentrum von Paris. Das Business Center mit einer Mietfläche von 23.600 Quadratmeter entsteht am Bahnhof Saint-Lazare, dem mit jährlich rund hundert Millionen Passagieren zweitgrößten Bahnhof der französischen Hauptstadt. Für Tania Bontemps, die Präsidentin der Union Investment Real Estate France SAS, steht deshalb fest: „Das Grand Central wird eines der modernsten Business Center von Paris an einem Standort, dessen Anbindung nicht besser sein könnte.“
Umfassen wird das Objekt neben Büro- und Einzelhandelsflächen auch zwei Restaurants, eine Bar und ein öffentlich zugängliches Auditorium. Mieter sind noch nicht gebunden – doch um die Vermietung macht sich Union Investment keine Sorgen. Denn in allen Großstädten schätzen anspruchsvolle Büronutzer die Nähe zu einem Bahnhof. „Eine solche Lage hat den Vorteil, dass Kunden den Firmensitz gut erreichen können und Mitarbeiter schnell zu den Kunden kommen“, bringt EBZ-Professor Günter Vornholz die entscheidende Qualität auf den Punkt. Es ist deshalb kein Zufall, dass Beratungsgesellschaften, deren Mitarbeiter oft zu Kunden aufbrechen, die Bahnhofsnähe ganz besonders schätzen. In Berlin beispielsweise hat sich die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PwC direkt neben dem 2006 eröffneten neuen Hauptbahnhof niedergelassen.
„Das von uns entwickelte Stadtquartier ist mittlerweile ein etablierter Bürostandort und bei Mietern stark nachgefragt“, sagt Frank Nickel, CEO der österreichischen Immobilienfirma CA Immo, mit Blick auf die Europacity, wie das neue Viertel am Berliner Hauptbahnhof heißt. Tatsächlich zählen Makler die Europacity zu den teuersten Bürolagen der deutschen Hauptstadt. Wie attraktiv sie ist, zeigt eine Anfang 2017 bekannt gegebene Großtransaktion: Die Investmentgesellschaft TH Real Estate sicherte sich noch vor Baubeginn einen von CA Immo entwickelten würfelförmigen Büroneubau direkt am Bahnhofseingang.
Eine „urbane Durchmischung der Nutzungen – Arbeiten, Dienstleistung, Kommerz, Wohnen, Kultur und Bildung“
Charakteristisch für die neuen Bahnhofsviertel ist allerdings, dass gerade keine reinen Bürostädte entstehen. Eine „urbane Durchmischung der Nutzungen – Arbeiten, Dienstleistung, Kommerz, Wohnen, Kultur und Bildung“ strebt beispielsweise die Immobilienabteilung der Schweizerischen Bundesbahn (SBB) mit ihrem Projekt Europaallee neben dem Zürcher Hauptbahnhof an. Und auch in Wien gehören neben den Bürogebäuden Hotels, ein Einkaufszentrum, ein Bildungscampus, das 5.000 Wohneinheiten umfassende Sonnwendviertel und nicht weniger als acht Hektar Grünflächen zum Bahnhofsumfeld.
Dabei überrascht es, dass im Zentrum europäischer Großstädte überhaupt Platz für solche neuen Viertel ist. Die Erklärung dafür liegt darin, dass viele Nutzungen rund um die Bahn heute nicht mehr benötigt werden: Lagerschuppen, Umschlagbahnhöfe und andere Logistikeinrichtungen sind verschwunden und haben so Platz für neue Entwicklungen gemacht.
Doch ob die angestrebte urbane Mischung wirklich gelingt und rund um die Bahnhöfe lebendige Viertel entstehen, ist umstritten. Jürg Stöckli, Leiter SBB Immobilien, gibt zu bedenken, dass ein solches Großprojekt Zeit brauche – und zwar nicht nur in der Realisierung, sondern auch in der Vorbereitung. Bei allen großen europäischen Stadtteilentwicklungen im Umfeld von Bahnhöfen wurde über Jahre hinweg – lange vor dem ersten Spatenstich – ein Masterplan entwickelt. Die Verantwortlichkeit für dessen Umsetzung liegt in unterschiedlichen Händen: Mal treiben – wie in Wien und Zürich – die Immobilienabteilungen der Staatsbahnen die Entwicklung voran, mal – wie in Berlin und London – private Immobiliengesellschaften, mal – wie in Lyon – eine von der öffentlichen Hand eigens gegründete Gesellschaft.
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Wohnungspreise im Umfeld der neuen Bahnhöfe sind stärker gestiegen
Bei alledem strahlt die neue Attraktivität der Bahnhöfe auch in bestehende Viertel aus. Die Immobilienberatungsgesellschaft Knight Frank hat diese Wirkung in Bezug auf Bahnhöfe entlang der neuen Bahnlinie Crossrail in London untersucht und dabei festgestellt, dass die Wohnungspreise im Umfeld der neuen Bahnhöfe zwischen 2008 und 2014 um bis zu 38 Prozent stärker gestiegen sind als in vergleichbaren Lagen.
Spannend sind die Auswirkungen aufs Umfeld auch in Zürich. Dort verbindet die Europaallee den Hauptbahnhof mit der Langstraße, einer multikulturell geprägten Meile, die noch in den neunziger Jahre als Ort von Rotlicht- und Drogengeschäften einen denkbar schlechten Ruf hatte. Doch längst steigen auch dort die Immobilienpreise, wie das in Zürich erscheinende „Tagesanzeiger-Magazin“ schreibt: Bereits zwischen 2005 und 2011 verteuerte sich demnach der Wert eines Wohnhauses als Folge der Entwicklung der Europaallee um mehr als das Doppelte.
In Wien mit seiner langen Tradition des sozialen Wohnungsbaus will man solche Aufwertungstendenzen übrigens nicht widerstandslos hinnehmen: Im Sonnwendviertel entstehen nicht nur, wie einst in den Bahnhofsquartieren des 19. Jahrhunderts, „feudale Wohnungen“, sondern auch öffentlich geförderte Wohnungen mit einer Monatsmiete von 7,44 Euro pro Quadratmeter.