
Biophiles Design stellt die Natur und den Menschen in den Mittelpunkt. Das steigert nicht nur das Wohlbefinden in Gebäuden, sondern hat auch ökonomische Vorteile. Von Elke Hildebrandt
Mit allen Sinnen in den Wald eintauchen, um Körper und Geist zu beruhigen, das klingt erst einmal nicht nach der Beschreibung eines Neubauprojekts mit 20 Wohnungen inklusive Parkgarage. Doch das Het Bosbad in Eindhoven steht genau dafür. Die Projektentwicklung des Architekturbüros Gaaga ist inspiriert vom japanischen Waldbaden, dem Shinrin Yoku, das vor einigen Jahren auch in Europa bekannt wurde. Diese Form des City-Detox gilt in Japan als anerkannte Therapieform. In die Atmosphäre des Waldes eintauchen, das wirkt stressreduzierend und stimmungsaufhellend. Bereits ein kurzer Aufenthalt verbessert Atmung, Puls und Blutdruck. Wer wie die Bewohner des Het Bosbad in der Nähe eines Waldes wohnt, kann sich doppelt glücklich schätzen. Ein grüner Durchgang, der sich wie ein Waldpfad mitten durch das Wohngebäude schlängelt, führt direkt zu den Wanderwegen der Umgebung. Die Freiflächen sind mit Farnen bedeckt, Kletterpflanzen ranken, das Regenwasser sammelt sich in einem Wadi. Das Gestaltungsprinzip des Gebäudes ist die Biophilie, die Liebe zur Natur.
Leuchtturmprojekte und Forschungsstudien treiben biophiles Design voran
Biophilie leitet sich ab vom griechischen „bio(s)“ (Leben) und „philia“ (Liebe) und bedeutet Liebe zum Leben, zum Lebendigen. Das biophile Design beruht auf diesem Verständnis. Es vereint eine Architektur- und Designrichtung, die den Menschen und die Natur in den Mittelpunkt stellt. Biophiles Design steigert nicht nur das Wohlbefinden, sondern hat auch ökonomische Vorteile für Unternehmen. Namhafte Großkonzerne wie Google und Apple investieren sehr viel Geld in naturnahe Wohlfühloasen. Mit den Worten „Alexa, öffne die Spheres!“ zelebrierte Amazon-Chef Jeff Bezos im Jahr 2018 in Seattle die Eröffnung von drei außergewöhnlichen botanischen Glaskuppeln. Die Belegschaft darf sich hier wie im Amazonasgebiet fühlen.
Der 65.000 Quadratmeter große futuristische Kuppelbau des Architekturbüros NBBJ versetzt Besucher in eine authentische Dschungelatmosphäre. Bänke, Terrassen und ein hängendes Vogelnest bieten in dem mehrstöckigen botanischen Garten einen Zufluchtsort, um der traditionellen Büroumgebung zu entfliehen und der Natur nahe zu sein. 40.000 Pflanzen wurden gesetzt, eine vier Stockwerke hohe begrünte Wand installiert, haushohe Bäume gepflanzt, Wasserfälle mit Hängebrücken angelegt und luftige Baumhäuser errichtet. Stolze 4 Milliarden US-Dollar investierte Amazon in die Erweiterung seines Campus, zu dem die Kuppellandschaft gehört. Doch warum betreibt ein Arbeitgeber diesen enormen Aufwand für biophiles Design?
Mitarbeitende sollen hier entspannen, Inspiration tanken und Meetings in lockerer Atmosphäre abhalten können. Dadurch sollen sie befähigt werden, kreativer zu denken – sollen auf neue Ideen kommen, die sie in einem herkömmlichen Büro nicht gehabt hätten. Besprechungen finden daher auf grünen Pfaden oder in Baumhäusern statt. Die grüne Umgebung, so die Annahme, inspiriere beim Arbeiten auf besondere Weise. Der Gartenbauexperte Ben Eiben, Amazons Program Manager Horticulture, bestätigt: „Man fühlt sich ein bisschen kreativer, wenn man sich von all den menschlichen Hilfsmitteln entfernt und einfach in der Natur ist.“
Büroangestellte fühlen sich wohler, sind produktiver und kreativer
Tatsächlich regen Räume mit biophilem Design die Gehirnfunktion an und beflügeln die Kreativität. Interface, ein weltweit tätiger Hersteller für textile modulare Bodenbeläge, hat in einer Studie den Zusammenhang zwischen Produktivität von Mitarbeitern und Wohlfühlen am Arbeitsplatz untersucht. 7.600 Büroangestellte in 16 Ländern wurden danach befragt, welche Auswirkungen die physische Arbeitsumgebung auf ihr Wohlbefinden habe. Vier grundsätzliche Vorteile von biophil designten Büros konnten durch den im Jahre 2015 veröffentlichten Report „The Global Impact of the Biophilic Design in the Workplace“ bestätigt werden: höhere Attraktivität für Bewerber, geringere Fluktuationsrate, weniger Kosten durch krankheitsbedingte Ausfälle sowie höhere Motivation und Identifikation. Der mit der Studie beauftragte Professor für Organisations- und Gesundheitspsychologie Sir Cary Cooper stellte fest, dass sich Büroangestellte mit natürlichen Elementen in ihrer Arbeitsumgebung wohler fühlen und dabei durchschnittlich um 6 Prozent produktiver und um 15 Prozent kreativer sind.
„Wir wissen, dass uns die Natur guttut. Paradoxerweise aber sperren wir uns in Gebäuden ein. Nordamerikaner verbringen 93 Prozent und Europäer 85 bis 90 Prozent ihrer Zeit in geschlossenen Räumen“, sagt Anne Salditt, Director EMEA Marketing Activation bei Interface. Besserung sei nicht in Sicht, denn mit der zunehmenden urbanen Dichte würden wir uns immer weiter von der Natur entfernen. Umso wichtiger sei deshalb biophiles Design, sagt Salditt: „Wir sind überzeugt, dass es ein eindringlicher und gut verständlicher Ansatz ist, mit dem wir Architekten und Nutzer inspirieren möchten.“ Bodenbeläge, wie sie von Interface angeboten werden, können dabei ein Teil des Ganzen sein. Denn naturnahe Gestaltung bedeutet nicht nur, die Natur unmittelbar in den Raum zu holen mit echten Pflanzen, mit fließendem Wasser und Zugang zu sinnlichen Reizen wie Tageslicht. „Es können auch Analogien genutzt werden, um Wohlbefinden auszulösen“, erklärt Salditt. Sie nennt Leuchten in naturnahen Formen wie Wassertropfen als Beispiel oder Teppichboden in Kieselstein-Optik. Auch eine Fototapete zähle dazu. Der Raum selbst spiele ebenfalls eine wichtige Rolle. Ob ein Büro einen sicheren Rückzugsraum böte, auch das ließe sich mit biophiler Gestaltung beeinflussen.
Anne Salditt spricht damit die Grundprinzipien des biophilen Designs an, die von dem Umweltberatungsunternehmen Terrapin Bright Green in den „14 Patterns of Biophilic Design“ zusammengefasst wurden. Die 14 Muster basieren auf neurobiologischen und psychologischen Erkenntnissen und werden in die drei Cluster Natur im Raum, Analogien zur Natur und Natur/Charakteristik des Raums eingeteilt. Dabei korrelieren die Muster mit menschlichen Erlebnissen. So gehört beispielsweise Wasser zum Cluster Natur im Raum. Das nasse Element als Wiege allen Lebens bereichert einen Ort durch Sehen, Hören oder Berühren und trägt dazu bei, dass ein Platz beruhigend sowie stimulierend wirkt.
Die „14 Patterns of Biophilic Design“ zeigen die universellen Möglichkeiten
Biophile Konzepte sind universell und funktionieren in unterschiedlichen Bereichen wie Städtebau, Architektur und Innenarchitektur. Sie kommen in verschiedenen Nutzungsarten zum Tragen wie Wohnhäusern, Bürogebäuden, Healthcare- und Bildungseinrichtungen, Einkaufzentren und Hotels. Für Bauherren und Investoren dürften dabei der Zeitaufwand und die wirtschaftlichen Parameter eine Rolle spielen. Amazon beispielsweise baute sieben Jahre an den Spheres. Das Leuchtturmprojekt ist jedoch kein Maßstab. Denn eine naturnahe Gestaltung ist auf vielen Niveaus möglich. Grundsätzlich aber gilt, so Birte Wildung: „Eine Arbeitsumgebung ohne Pflanzen können wir uns heute nicht mehr leisten.“ Die Geschäftsführerin von Akzente Raumbegrünung ist spezialisiert auf vertikale Begrünungen und Büropflanzen. Sie beobachtet, dass es für Unternehmen immer wichtiger werde, natürliche Systeme und Prozesse in das urbane Arbeitsumfeld zu integrieren, um die Umgebung für die Mitarbeiter so zu gestalten, dass diese nicht nur gern kommen und bleiben, sondern auch produktiver und gesünder bei der Sache seien.
Mit Analogien zur Natur lassen sich herkömmliche Büroetagen verwandeln
Ein bemerkenswertes Beispiel für biophil gestaltete Bürolandschaften ist das Gebäude Latitude in Paris-La Défense. Anfang 2022 übergab die Immobilienentwicklungsgruppe Générale Continentale Investissements rund 22.000 Quadratmeter Bürofläche an den Mieter Sopra Steria, ein führendes europäisches Technologieunternehmen. Das in den 1970er-Jahren errichtete Gebäude war zuvor vollständig saniert und erweitert worden. Eine geniale Gestaltungsidee sind die Analogien zur Natur. So bietet jede Gebäudeebene ein einzigartiges Ambiente, das auf die verschiedenen Breitengrade und Klimazonen der Welt zugeschnitten ist. Die Innenausstattung stammt vom Atelier Annie Vitipon, das gemeinsam mit Interface eine subtile Mischung aus verschiedenen Texturen, Farben und Materialien kreierte. Für jede der acht Etagen wurden unterschiedliche Stimmungen gewählt: Weiß und kühle Farben für den Nordpol, Sand- und Terrakottatöne für die Wüste. „Das Gebäude lädt ein zu einer inspirierenden Weltreise durch die Naturräume unserer Erde“, sagt Anne Salditt.
Dank der positiven Auswirkungen auf Wohlbefinden und Gesundheit überrascht es nicht, dass Aspekte der naturnahen Gestaltung in den Zertifizierungssystemen für die Nachhaltigkeit von Gebäuden zu finden sind. Der Well Building Standard in der aktuellen Version Well V2 ist ein Beispiel dafür. Eines der Merkmale fordert etwa die Integration von Natur und natürlichen Elementen in das Innere und Äußere des Projekts. Wird eine LEED-Zertifizierung angestrebt, sollten ebenfalls einige biophile Gestaltungsstrategien verwendet werden. Und die Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB) hat ein Praxismodul für Innenräume entwickelt, das biophiles Design berücksichtigt. „Wenn jemand ein augenscheinlich biophiles Gebäude hat, dann zahlt das positiv auf die DGNB-Kriterien ein“, bestätigt Felix Jansen, Abteilungsleiter PR, Kommunikation und Marketing bei der DGNB.
Aber, gibt Jansen zu bedenken, es bedürfe auch einer ehrlichen ökonomischen Betrachtung der Anschaffungs- und Unterhaltungskosten. Gleichwohl sei der repräsentative Effekt nicht zu unterschätzen. Einen Trend könne er hierzulande jedoch nicht feststellen. Ein anderes Selbstverständnis zeigt sich dagegen in Singapur, dem Insel- und Stadtstaat südlich von Malaysia. Hier plant die Regierung die grünste Stadt der Welt. Biophilie ist daher auch für Immobilieneigentümer das Maß aller Dinge. Das zeigt sich in vielen Gebäuden wie etwa dem Parkroyal on Pickering, einem der außergewöhnlichsten Gartenhotels Asiens. Das Prinzip: Wo die Natur nicht mehr in die Breite wachsen kann, wird sie nach oben gepflanzt.
In Singapur gilt eine naturnahe Gestaltung als Wettbewerbsvorteil
Ein anderes Beispiel ist das im Jahr 2022 fertiggestellte CapitaSpring. Der Wolkenkratzer des multinationalen Asset-Management-Unternehmens Capitaland ist ein Projekt, das von Bjarke Ingels Group (BIG) und Carlo Ratti Associati (CRA) im Finanzdistrikt realisiert wurde. Der 280 Meter hohe Turm beherbergt mehr als 80.000 Pflanzen mit einem Grünflächenverhältnis von mehr als 1:1,4. „Die bepflanzte Fläche ist deutlich größer als die versiegelte Bodenfläche“, erklärt Architekt Martino Hutz, der die Projektleitung innehielt und anschließend als Berater vor Ort in Singapur für BIG und CRA tätig war.
Auch Bestandsgebäude werden mit biophilem Design umgestaltet und aufgewertet. Die Citibank Singapur beispielsweise ließ in einem Bürogebäude in der Orchard Road einzelne Stockwerke in ein üppig bepflanztes Bankgewächshaus verwandeln. Die neuen Besprechungsräume liegen inmitten tropischer Pflanzen.
Wir reden über nachhaltiges Bauen und nachhaltige Materialien, aber erst biophiles Design schafft für uns Menschen einen erlebbaren Mehrwert.
Aufgrund des einzigartigen Charakters von Singapurs Städtebau – sowohl dicht als auch grün – bestehe für Investoren ein deutlich spürbarer Druck, Gebäude mit biophilem Design attraktiv und einzigartig zu gestalten, beobachtet Hutz. Im CapitaSpring etwa wurde in der Mitte des Hochhauskörpers ein mehrgeschossiger, weithin sichtbarer vertikaler Park errichtet. Die verschiedenen Etagen sind mit einer einzigartigen, spiralförmig ansteigenden Promenade verbunden, umsäumt von tropischen Bäumen. Aus Erfahrung weiß Hutz: „So ein Projekt steht und fällt mit dem Willen und der Motivation des Bauherrn. Wir haben im Vergleich zu einem einfachen Bürogeschoss ein Vielfaches an Zeit und Energie in die Umsetzung des komplexen Grünkonzepts gesteckt.“
Wenn die Natur mit der Stadt verbunden werde, lohne sich jedoch der Einsatz, sagt Architekt Hutz: „Wir reden über nachhaltiges Bauen und nachhaltige Materialien, aber erst biophiles Design schafft für uns Menschen einen erlebbaren Mehrwert.“
Von Elke Hildebrandt