Risikolage neu bewerten

Nachdem die Wirtschaftslage lange Zeit ganz im Zeichen der Auswirkungen der Pandemie stand, treten nun zahlreiche neue Einflussfaktoren in den Vordergrund, wie etwa der Krieg in Europa, die steigende Inflation, steigende Zinssätze und anhaltende Versorgungsengpässe. Wie Immobilieninvestoren sich angesichts der geänderten Risikolage jetzt positionieren. Von Isobell Lee

Viele Anleger erinnern sich noch genau daran, wo sie waren, als am 24. Februar dieses Jahres der Krieg in der Ukraine ausbrach. Zuvor hatte sich alles nur um Corona und die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie gedreht. Das änderte sich praktisch von einem Tag auf den anderen: Jeder fragte sich, welche Auswirkungen der seit 80 Jahren erste Angriff auf einen souveränen Staat Europas haben würde. Dabei waren die Pandemie-Folgen nicht etwa plötzlich überwunden. Die russische Invasion hat sie noch einmal verstärkt und neuen Druck erzeugt, indem sie die bereits geschwächten Lieferketten (siehe die Grafik Seite 24) und Arbeitskräfteströme noch weiter verlangsamt hat. Inzwischen herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass die Hoffnungen auf eine Erholung der schleppenden Weltwirtschaft einen erheblichen Rückschlag erlitten haben. Dazu Weltbankpräsident David Malpass: „Der Krieg in der Ukraine, Lockdowns in China, Unterbrechungen der Lieferketten und das Risiko einer Stagflation bremsen das Wachstum. Viele Länder werden eine Rezession kaum vermeiden können. Es bedarf steuer-, geld-, klima- und schulden­politischer Änderungen, um einer verfehlten Mittelverteilung und Ungleichbehandlung entgegenzuwirken.“


Risiko- und Chancenmanagement sind zwei Seiten einer Medaille

In der Immobilienbranche bildet sich ein neuer Konsens darüber heraus, dass in diesen stürmischen Zeiten ein umsichtiges Risikomanagement erforderlich ist. Stephanie McMahon, Head of Strategy bei BNP Paribas Real Estate UK, erklärt: „Derzeit sehen wir im Großen wie im Kleinen erstaunlich viele Entwicklungen, die sich dauerhaft auf die Immobilienbranche auswirken – von der weltwirtschaftlichen Lage und ihrem Einfluss auf die Kapitalströme bis hin zu den Entscheidungen, die wir alle darüber treffen, wie wir nach Corona leben wollen. Darüber hinaus kommt der Immobilienbranche eine große Bedeutung zu, wenn es um die Reduzierung der CO2-Emissionen und den Erhalt der biologischen Vielfalt geht. Auch deshalb ist es fundamental wichtig, flexibel und innovativ zu bleiben.“ Martin J. Brühl, Chief Investment Officer bei der Union Investment Real Estate GmbH, sieht es auch so: „Die Risikolage hat sich seit den pandemiebedingten Lockdowns geändert. Hinzugekommen sind eine drohende Rezession und Engpässe in der Energieversorgung.“ 


Wir bauen unsere Strategie für die nächsten drei Jahre auf drei Säulen auf: Wachstum, Technologie und Nachhaltigkeit.
Stephanie McMahon Head of Strategy, BNP Paribas Real Estate UK

Er betont jedoch, dass es stets zu den Kernaufgaben von Vermögensverwaltern und Investmentmanagern gehört, die Risiken im Blick zu behalten, nicht nur bei ­einer drohenden Rezession. „Als treuhänderische Vermögensverwalter handeln wir im Anlegerauftrag und sollen kalkulierte Risiken am Immobilienkapitalmarkt eingehen, um die dort bestehenden Chancen zu nutzen“, erklärt er. „So gesehen gehört zu einer Risikostrategie immer auch eine Strategie für das Chancenmanagement, die unter anderem im Transaktionsmanagement, im Asset Management und in der Liquiditätssteuerung zum Ausdruck kommt.“


Die Steuerung der Investitionsrisiken erfordert ein umsichtiges Management

Zuhaib Butt, Leiter Investment Risk Strategy Management bei LaSalle Investment Management, vertritt eine ähnliche Meinung: „Die Steuerung der Investitions­risiken war bei LaSalle schon immer ein wesentlicher Bestandteil des Immobilien­managements. Bei der Steuerung der sich abzeichnenden Risiken verfolgen wir einen vielschichtigen Ansatz. Nach unserer Philosophie steht nicht die Risikominimierung, sondern die Risikooptimierung im Vordergrund. Entscheidend ist, dass wir zwischen den Risiken, die wir eingehen, und den Renditen, die wir für unsere Kunden erwirtschaften, abwägen und uns nicht übermäßig bestimmten Risikoarten aussetzen.“ Er räumt aber auch ein, dass die aktuelle gesamtwirtschaftliche Lage eine besondere Umsichtigkeit verlangt. „Makro- und geopolitische Faktoren gelten in der Regel als systematische Risiken, die unterschiedslos alle betreffen. Eine Diversifizierung dieser Risiken ist bedingt möglich, sofern weltweite Investitionen eine Option sind, aber die Finanztheorie geht davon aus, dass es unmöglich ist, systematische Risiken komplett auszuschließen.“ 


Die Rahmenbedingungen gegenüber 2008 sind grundlegend andere

Die Bankenaufsicht der Europäischen Zentralbank, die die Sicherheit und Stabilität des europäischen Bankensystems überwacht, hat in ihrer Risikobewertung für den Zeitraum 2022 bis 2024 bereits die aus der Gewerbe- und Wohnimmobilienbranche entstehenden Risiken der Banken als eine Hauptschwachstelle identifiziert. Während sie im Gewerbeimmobiliensektor eher kurzfristige Risiken sieht, rechnet sie im Wohnimmobiliensektor aufgrund möglicher Überbewertungen und einer steigenden Verschuldung der Haushalte mittelfristig mit zunehmenden Preiskorrekturen.


Neue Vorschriften wie Basel III haben dazu geführt, dass bei spekulativen Projekten die Kreditvergabe für die Banken unwirtschaftlich ist.
Mark Callender Head of Real Estate Research, Schroders Capital

Die Daten der EZB-Bankenaufsicht weisen auf beträchtliche Exposures der Banken im Gewerbeimmobiliensektor hin, die sich auf rund 8 Prozent des gesamten Kreditvolumens der beaufsichtigten Banken und mehr als 20 Prozent der gesamten Unternehmenskredite belaufen. In absoluten Werten sind die Exposures im Gewerbeimmobiliensektor in Deutschland, Frankreich und Italien besonders hoch. In anderen Ländern wie zum Beispiel Zypern, Slowenien und Estland haben die Exposures im Gewerbeimmobiliensektor einen extrem hohen Anteil an den gesamten Unternehmenskrediten von mehr als 40 Prozent. Die Erinnerungen daran, welche Schäden die Krise an den globalen Finanzmärkten vor fast 15 Jahren angerichtet hat, sind noch sehr präsent. Deshalb sind alle Institutionen jetzt noch wachsamer. Doch wie Mark Callender, Head of Real Estate Research bei Schroders Capital, betont, haben sich die Rahmenbedingungen im Vergleich zu 2008 grundlegend verändert: „In der Vergangenheit reagierten die Kapitalwerte von Immobilien sehr empfindlich auf Veränderungen der Kurzfristzinsen, da sowohl Projektentwickler als auch Investoren hochgradig fremd­finanziert waren. Das ist seit der Finanzkrise anders“, stellt er fest.


Union Investment hat im Rahmen eines Forward Funding die Projektentwicklungen Degerloch Office Center 1 und 2 am Südrand der Stuttgarter Innenstadt erworben. Die Fertigstellung ist im vierten Quartal 2023 geplant. Beide Objekte sollen über ein DGNB-Gold-Zertifikat verfügen.
Union Investment/WWA Architekten Wöhr Heugenhauser Johansen Part mbB (simulation)
Nach unserer Philosophie steht nicht die Risikominimierung, sondern die Risikooptimierung im Vordergrund.
Zuhaib Butt Leiter Investment Risk Strategy Management, LaSalle Investment Management

„Neue Vorschriften wie etwa Basel III haben dazu geführt, dass bei spekulativen Projekten die Kreditvergabe für die Banken unwirtschaftlich ist. Auch die Investoren haben inzwischen erkannt, dass Schulden ein zweischneidiges Schwert sind, da sie einen Rückgang der Kapitalwerte noch verstärken. Vor der Finanzkrise hatten Real Estate Investment Trusts (REITs) im Regelfall noch einen Beleihungsauslauf von 60 bis 70 Prozent; jetzt liegt er generell bei 20 bis 30 Prozent. Zudem sind Festzinskredite in den letzten fünf Jahren zum Standard geworden, sodass die meisten REITs zunächst von Zinserhöhungen verschont bleiben dürften“, so Callender. 


Institutionelle Investmentmanager sind heute bemüht, den bestehenden Risiken mit einer ganzen Reihe von Strategien zu begegnen. LaSalle-Experte Butt erklärt: „Wir glauben, dass wir die Risiken mit einer Kombination aus Top-down- und Bottom-up-Ansatz am besten in den Griff bekommen. Jedes ordentliche Risikomanagement muss auf soliden Daten basieren, deren Auslegung erfordert aber viel Sachkenntnis und Erfahrung. Unsere Fachstelle für Investitionsrisiken unterstützt uns dabei, die Chancen und Risiken des Marktes und der von uns im Kundenauftrag gehaltenen Immobilien abzuwägen.“ Das Research & Strategy Team von LaSalle spielt hierbei nach Angabe von Zuhaib Butt eine entscheidende Rolle. Zweckdienliche Daten können dabei aus einer Vielzahl von Quellen stammen – seien es hochfrequente Kapitalmarktdaten, sogenannte Web Scrapings aus sozialen Medien oder aber Daten aus anderen nicht traditionellen Quellen. 


Strengere Maßstäbe als je zuvor an Märkte, Objekte und Geschäftspartner

Nach Auskunft von Martin J. Brühl konzentriert sich die Asset-Management-Strategie von Union Investment im aktuellen Umfeld auf das Ziel Wertsteigerung oder zumindest auf langfristigen Werterhalt. Zu den Instrumenten in diesem Zusammenhang gehören verlängerte Mietlaufzeiten, wo immer dies möglich ist, um hochwertige Mieter längerfristig zu binden und einen häufigen Mieterwechsel zu vermeiden, in Verbindung mit der „Manage to Green“-Strategie, die für mehr Nachhaltigkeit im Immobilienbestand sorgt und Abschlägen bei ineffizienten Gebäuden vorbeugt.


Im Hinblick auf die Investment-Management-Strategie werden andererseits strengere Maßstäbe als je zuvor bei der Auswahl der Märkte, Objekte und Transaktionspartner angelegt. „Die Zeit der billigen Kredite und Opportunisten ist vorbei“, so Brühl. „Jetzt schlägt die Stunde der eigenkapitalstarken Investoren. Daher investieren wir mit Augenmaß und auch nur da, wo wir wirklich überzeugt sind. Unsere Zeit wird kommen. Die Zinswende wird letztendlich zu Notverkäufen führen, aber auch einige der aktuellen Probleme werden mit der Zeit abebben.“ 


Die Ertragsprognosen der Immobilienwirtschaft werden unsicherer

Nach Ansicht von Stephanie McMahon von BNPPRE sind Innovationen für den Fortschritt unabdingbar: „Um die Risiken zu mindern, unser organisches Wachstum voranzutreiben, neue Möglichkeiten zu erschließen und Größenvorteile zu generieren, bauen wir unsere Strategie für die nächsten drei Jahre auf drei Säulen auf: Wachstum, Technologie und Nachhaltigkeit. Das Personal spielt dabei eine entscheidende Rolle. Seit Jahresanfang haben wir firmenweit insgesamt 144 neue Mitarbeitende eingestellt, darunter 15 Führungskräfte.“ Außerdem werde das Unternehmen seine Partnerschaft mit der auf PropTech spezialisierten Venture-­Capital-Gesellschaft Fifth Wall ausbauen, die BNPPRE mit technischen Lösungen im Bereich Digitalisierung unterstützt. Die finanzielle Kompetenz habe aber weiterhin höchste Priorität. „BNPPRE ist die einzige britische Immobilienberatung, die zu einem Bankkonzern gehört. Deshalb können wir nicht nur Immobilienkompetenz, sondern auch Finanzkompetenz, entsprechende Lösungen und ein einzigartiges Know-how bieten“, erklärt sie.


Komplikationen können im gegenwärtigen Klima allerdings auch trotz robuster Absicherungsmaßnahmen auftreten. Die europaweiten Sanktionen gegen Russland haben dazu geführt, dass die Immobilien­branche ihre Kapitalquellen deutlich gründlicher durchleuchtet, ähnlich wie zum Beispiel die Wertpapierbranche, die im Dauerkampf gegen Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung in der Regel strengere Maßstäbe anlegt. Aufgrund der Wechselwirkungen zwischen Anleihe-­ und Immobilienrenditen sieht sich die Immobilienwirtschaft außerdem mit unsicheren Ertragsprognosen konfrontiert. 


Mark Callender von Schroders Capital meint: „Die Anleiherenditen könnten einen Aufwärtsdruck auf die Immobilienrenditen ausüben. Wenn es so kommt, ist generell zu erwarten, dass Sektoren mit der stabilsten Angebots- und Nachfrage­dynamik und den besten Mietwachstumsaussichten weniger betroffen sein werden. Zum Beispiel dürften Multi-­Let-Industrieimmobilien, erstklassige Büroimmobilien sowie Fachmarktzentren weniger betroffen sein als Einkaufszen­tren und Büroobjekte in B-Lagen.“


Wie Callender weiter ausführt, sind die wenigen Investoren, die indexgebundene Mietverträge vereinbaren konnten, am besten gegen die steigende Inflation geschützt. Zugleich weist er aber darauf hin, dass „die Kapitalwerte trotzdem von der Entwicklung der Anleiherenditen und Immobilienrenditen beeinflusst werden“. Außerdem bestehe in Sektoren mit schwacher Angebots- und Nachfragedynamik die Gefahr, dass die Mieten nach Auslaufen des bestehenden Mietvertrags auf das Niveau des freien Markts absinken.


Auch wenn Immobilieninvestoren im derzeitigen Umfeld geneigt sein könnten, immer teurer werdende Sanierungsprojekte auf Eis zu legen, drängen ESG-Experten darauf, langfristig zu denken, was vor dem Hintergrund der jüngsten Green­washing-Skandale in der Branche durchaus angebracht ist.


ESG erfordert mutige und langfristige Managementansätze

Tom Scott, Mitgründer von Construction Carbon, einem Spezialisten für die CO2-Verifizierung von Bauprojekten, bestätigt: „Das Thema Lieferketten ist wirklich ein Problem.“ Er sieht für die Immobilienbranche aber auch die Chance, mutiger denn je voranzuschreiten: „Wir müssen die gesamte Baubranche unter die Lupe nehmen. Wir müssen neue Baustoffe und das Recycling im großen Stil in den Blick nehmen. Eine zweite industrielle Revolution, die eine ganze Fülle neuer Baustoffe und Bauweisen hervorbringt, ist längst überfällig.“


Natali Cooper, Geschäftsführerin und Head of Portfolio, Asset Management and ESG Europe beim Logistikanbieter GLP, ist auch der Meinung, dass die Ressourcenknappheit kein vorübergehendes Phänomen ist und dass dieses Problem im Rahmen langfristiger Strategien berücksichtigt werden sollte: „Klimaneutrales Bauen ist auch eine Frage der Effizienz. Wenn wir es ernsthaft angehen, können wir in vielen Fällen Baustoffe und damit CO2-Emissionen, aber auch Geld und Ressourcen einsparen, was künftig immer wichtiger wird.“


Trotz der vielfältigen Risiken zeigen sich die erfahrenen Immobilien-Investmentmanager im Großen und Ganzen zuversichtlich, dass sie für die Bewältigung der nächsten 12 bis 18 Monate die richtigen Strategien parat haben. Dazu Mark Callender von Schroders Capital: „Wir gehen nicht davon aus, dass Notverkäufe in den kommenden 12 Monaten nennenswert zunehmen werden, obwohl einige private Immobiliengesellschaften und ausländische Investoren mit hohem Verschuldungsgrad in Bedrängnis geraten könnten.“ Sein Fazit: „Letztendlich ist die Assetklasse Immobilien so anpassungs­fähig wie ein Chamäleon. Sie ist irgendwo zwischen festverzinslichen Anlagen und Wertpapieranlagen angesiedelt und ­bewegt sich mit steigenden oder sinkenden Mieten zwischen diesen beiden Assetklassen.“


Von Isobell Lee


Titelbild: Bertram Kober/PUNCTUM

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