
Mithilfe digitaler Technologien entwickeln Architekten eine neue Formensprache. Der rechte Winkel ist dabei nicht mehr das Maß aller Dinge. Amorphe Entwürfe erobern die Gestaltung und verändern die Wahrnehmung im öffentlichen Raum.
Wer erstmals die Cocktailbar Trisoux besucht, kann gar nicht mehr aufhören, nach oben zu starren. Ein Meer aus Fichtenhölzern formiert sich über den Köpfen der Gäste zu einem einzigartigen Parcours, der aus der Decke wächst. Insgesamt drei Kilometer Holz ließ der Architekt Martino Hutz für die 6.400 glatt polierten Stäbe verbauen. Sein faszinierendes Stalaktitenheer wirkt wie umgestülpte Wellen auf hoher See und versetzt die Besucher in eine Unterwelt aus verwunschenen Grotten und mystischen Höhlen; szenisch beleuchtet, mit Moos an den Wänden und mit Farnen begrünt. Kaum einer ahnt, dass sich hinter den hölzernen Wogen komplexe Geometrien verbergen, die auf Programmen und Algorithmen basieren. Denn das einladende Raumkonzept ist das Ergebnis parametrischer Planung.
Die digitale Entwurfsmethodik begleitet den Architekten der Münchner Bar bereits seit seinem Studium in Wien. Hier besuchte Hutz die Meisterklasse von Zaha Hadid (1950–2016). Die Architektin, Architekturprofessorin und Designerin gilt als Grande Dame der modernen Baukunst. Die Britin mit irakischen Wurzeln kreierte eine neue architektonische Formensprache und schuf weltweit aufsehenerregende Bauwerke. Gemeinsam mit dem Vordenker Patrik Schumacher trieb sie die Kunst des parametrischen Entwerfens voran. Die Idee dahinter: Die Punkte eines geometrischen Baukörpers sind nicht fix, sondern haben flexible Werte. Egal wie viele Parameter und Entwurfsschritte mit einem Punkt verbunden sind, wird dieser eine Punkt variiert, verschiebt sich alles und passt sich dieser Veränderung an. Mit herkömmlicher Entwurfsplanung sind derart komplexe Szenarien und Variationen undenkbar. Parametrische Architektur ist daher erst möglich geworden durch die fortschreitende Informationstechnologie. Dreh- und Angelpunkt ist das parametrische beziehungsweise das auf Skripten basierte Entwerfen – ein Skript steht für eine Liste von Befehlen. „Letztlich muss jede Geometrie, wenn sie komplexere Ausmaße hat, geskriptet werden“, erklärt Martino Hutz. Auch seine doppelt gekrümmte Deckeninstallation sei ohne ein digitales Werkzeug nicht darstellbar. Der Architekt aus Kopenhagen benutzte für das Deckendesign hauptsächlich Rhinoceros, ein Computer-aided-Design-Programm, und das hierfür entwickelte Plug-in Grasshopper zur Verknüpfung der geometrischen Objekte und Parameter. Nur welche Parameter sind für ein außergewöhnliches Bar-Erlebnis entscheidend?
Von A bis Z programmiertes Raumerlebnis
Hutz ermittelte sie mithilfe einer digitalen Crowd-Simulation. „Ich experimentiere damit, einzelne Personen mit mehr und mehr Informationen auszustatten, und simuliere das Verhalten einer großen Anzahl von Personen im Raum“, erklärt der Architekt. Bewegungsflächen, Ruhezonen und Anziehungspunkte wurden so identifiziert und optimiert. „Ich habe die Decke als zentrales architektonisches Element gewählt. Das spart Bodenfläche und durch das Holz als Baustoff entstehen raumklimatische und akustische Vorteile“, sagt Hutz. Aus den Simulationsdaten wurde das Höhenspiel der Holzstäbe parametrisch abgeleitet. „Die Installation ist von A bis Z programmiert und schafft es, die Gäste indirekt und unbewusst zu leiten“, fasst Hutz zusammen. Dank der digitalen Tools bietet die Bar ein poetisches und emotional bewegendes Raumerlebnis.
Dieses Beispiel aus der Innenarchitektur lässt erahnen, wie digitales Design heute funktioniert. „Es umfasst aber nur einen kleinen Teil der immensen Möglichkeiten“, betont der Architekt. Bereits im Jahr 2008 hatte Patrik Schumacher den Parametrismus zum neuen Paradigma der Architektur erklärt. Dass die Übergänge zwischen analoger und digitaler Entwurfsplanung durchaus fließend sein können, zeigen etwa die Arbeiten des Architekturbüros J. Mayer H. und Partner. Bei jedem Projekt wird neu entschieden, wann analoge oder digitale Werkzeuge besser für den Entwurfsprozess geeignet sind. Mit dem 2011 fertiggestellten Metropol Parasol kreierte das Büro ein viel beachtetes neues Wahrzeichen für die Stadt Sevilla. Um die komplexe Geometrie zu erzeugen, kam das Programm Rhinoceros zum Einsatz. Bei dem im Jahr 2012 in Berlin fertiggestellten Apartmenthaus JOH3 wurde ein parametrisches Fassadenmodell eingesetzt.
Das umfassende parametrische Modell wird die Art und Weise, wie unsere gebaute Umgebung geplant und konstruiert wird, grundlegend verändern.
Beispiele architektonischer Spitzenforschung lassen sich auch auf der diesjährigen Bundesgartenschau in Heilbronn bewundern. Forscher der Universität Stuttgart wurden hier mit dem Bau zweier experimenteller bionischer Pavillons beauftragt. Das Spezialgebiet der Wissenschaftler: digitaler Entwurf und digitale Fertigung. Die angewandten Planungs-, Simulations- und Fertigungsverfahren ermöglichten es, neue Konstruktionsformen zu entwickeln. Außerdem wurde das Prinzip der „morphologischen Differenzierung“ erprobt und in einer robotischen Produktion umgesetzt. Christoph Zechmeister, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institute for Computational Design and Construction, fasst die Vorteile der digitalen Technologie zusammen: „Durch die enorme Rechenleistung der Computer können wir komplexe Abläufe modellieren, Abhängigkeiten und Wechselwirkungen digital erfassen und Feedbackschleifen generieren, dazu feldübergreifend und interdisziplinär arbeiten.“ Wer dagegen nur die Digitalisierung konventioneller, analoger Prozesse im Sinn habe, nutze das enorme Potenzial für die Architektur nicht völlig aus.
Das Auge erfreuen, die Sinne anregen
Architekten, die die Kunst des parametrischen Entwerfens beherrschen, sind in der Lage, sehr außergewöhnliche Lösungen jenseits des rechten Winkels zu realisieren. Das zeigen auf beeindruckende Weise die Arbeiten von Zaha Hadid Architects (ZHA). Im vergangenen Jahr wurde Morpheus, ein neues Hotel im City of Dreams Resort in Macau, eröffnet. Die fließenden Formen sind angelehnt an chinesische Jadearbeiten. Dabei sollen die ins Gebäudezentrum „geschnitzten“ Hohlräume ein urbanes Fenster sein, das die inneren, spektakulären Gemeinschaftsräume des Hotels mit der Stadt verbindet. Laut ZHA ist es das „erste frei geformte Hochhaus-Außenskelett der Welt“. Viviana Muscettola, Projektleiterin bei ZHA, erklärt: „Das umfassende parametrische Modell, das alle ästhetischen, strukturellen und Fertigungsanforderungen des Hotels vereint, wird die Art und Weise, wie unsere gebaute Umgebung geplant und konstruiert wird, grundlegend verändern.“ Für Investor Melco Resorts ist das Morpheus vor allem „eine Reise der Fantasie“, die das Auge erfreut und die Sinne anregt. Der Name des architektonischen Meisterwerks scheint daher gut gewählt – in der griechischen Mythologie ist Morpheus der Gott des Traums.
Von Elke Hildebrandt