Unterschätzter Gamechanger

Deutschland wird älter. Die Zahl der Arbeitnehmer sinkt, die Zahl der Pflegebedürftigen steigt. Was bedeutet das für Immobilieninvestoren? Von Claus Hornung

Demografie war das Thema, über das alle sprachen. Bis vor etwa 20 Jahren, so erinnert sich Tobias Just, Wissenschaftlicher Leiter der Irebs Immobilienakademie, gab es keine Konferenz von Immobilienexperten ohne diesen Warnruf: „Wir werden älter und weniger!“ Doch der demografische Schock blieb aus. Vorerst, jedenfalls.


Zuwanderung kann die Überalterung nicht aufhalten

Massive Zuwanderung verhinderte das „Weniger“. Lebten in Deutschland Ende 1992 noch 80,6 Millionen Menschen, waren es Ende 2022 bereits 84,3 Millionen – der höchste Stand seit Bestehen der Bundesrepublik. Ein anderes Problem aber sei nicht gelöst, sagt Just: „Zuwanderung kann die Überalterung nur verlangsamen, aber nicht stoppen.“ In den vergangenen 30 Jahren ist der Anteil der über 65-Jährigen von 15 Prozent auf 22 Prozent angestiegen. Im Jahr 2060 wird er nach Prognosen bei 34 Prozent liegen. „Jetzt steht Demografie wieder auf der Tagesordnung“, sagt Tobias Just, „und das zu Recht.“ 


Am meisten wird sich der Wandel seiner Meinung nach auf Wohnimmobilien auswirken. „Es wird weiter eine große Flächennachfrage geben“, sagt Just. Ein Faktor dafür ist neben dem Wachsen der Bevölkerung, dass die Quadratmeterzahl an Wohnfläche pro Einwohner angestiegen ist: von durchschnittlich 34,9 Quadratmeter im Jahr 1991 auf 47,7 Quadratmeter 2021. Dieser Bedarf wird durch den „Remanenzeffekt“ verschärft: Ältere Menschen bleiben nach Wegzug der Kinder in ihrem Haus oder ihrer Wohnung – auch wenn sie die Fläche nicht mehr benötigen. Ein Grund dafür ist der massive Anstieg der Miet- und Immobilienpreise der vergangenen Jahre, meint Philipp Deschermeier, Senior Economist und Demografieexperte am Institut der deutschen Wirtschaft (IW). „Es gibt keinen Anreiz umzuziehen, wenn die kleinere Wohnung genauso viel kostet wie die derzeitige große Wohnung.“ 


Demografie befasst sich mit der Entwicklung der Bevölkerung und ihrer Strukturen. Faktoren wie Geburtenrate, Wanderungssaldo und Sterberate sind wichtig. In Deutschland führt die demografische Entwicklung zu erheblichen Veränderungen der Bevölkerungsstruktur.
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Flächennachfrage am Wohnungsmarkt variiert regional stark

Aber die Nachfrage betrifft nicht alle Regionen. Bereits seit 2012 verzeichnet das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BIB) erstmals seit zehn Jahren einen leichten Deurbanisierungstrend. Das beweise jedoch nicht, dass Menschen in ländliche Räume zögen, sagt Nikola Sander, Forschungsdirektorin für Migration und Mobilität am BIB: „Die Statistik differenziert nicht präzise zwischen Land und Speckgürtel.“ Irebs-Professor Just ist darum sicher: „Die Innenstadtkerne verlieren, aber die Metropolregionen wachsen. Solange Flächen in der Stadt nicht erschwinglicher werden oder sich die Aufenthaltsqualität dort deutlich verbessert, wird diese Entwicklung anhalten.“ Den größten Anteil an dieser Wanderungsbewegung machten laut einer Studie des Immobilienbewerters ENA Experts die Jahrgänge zwischen 1957 und 1969 aus, die im Laufe der nächsten 15 Jahre die Rente erreichen werden.


Bedarf an den verschiedenen Formen des betreuten Wohnens wächst

Das hat Auswirkungen auf den Bedarf an Pflegeimmobilien. Ende 2021 lag die Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland bereits bei fünf Millionen Menschen. „Diese Zahl wird weiter steigen“, sagt Carolin Wandzik, Leiterin Strategie- und Geschäftsfeldentwicklung bei der Gesellschaft für Ortsentwicklung und Stadterneuerung sowie Immobilienweise für den Zentralen Immobilien Ausschuss (ZIA). Und damit auch der Bedarf an Pflegeimmobilien. Denn derzeit werden 84 Prozent aller Pflegebedürftigen zu Hause versorgt. Nach Wandziks Einschätzung bieten sich hier für Investoren große Chancen. 


Nachdem die Renditen für Pflegeimmobilien zwischen 2012 und 2021 von 7 auf 3,9 Prozent gesunken seien, lagen sie 2022 bereits wieder bei 4,3 Prozent, so Wandzik: „Und die Nachfrage steigt.“ Vorausgesetzt, dass die Immobilien die tatsächlichen Bedürfnisse der Zielgruppe abdecken. Dazu gehört laut der ENA­Studie unter anderem der Wunsch nach „der eigenen Gestaltungsmöglichkeit des Wohnraums“. „Nachfrage wird es vor allem nach Servicewohnen geben, bei dem Pflegeleistungen flexibel hinzugebucht werden können“, sagt Wandzik: „Diese Wohnform ist für Investoren auch deshalb interessant, weil sie weniger personalintensiv ist.“ 


Büroflächen in Innenstadtlagen bleiben weiterhin begehrt

Überalterung bedeutet auch, dass weniger Menschen berufstätig sind. Die Zahl der „Erwerbspersonen“, die dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, wird nach Prognosen des Statistischen Bundesamts von 35,3 Millionen im Jahr 2019 bis 2040 auf 30,7 Millionen sinken. Damit wird auch die Zahl der Bürobeschäftigen sinken, die seit dem Jahr 2000 kontinuierlich gestiegen war: allein von 2012 auf 2021 in den sieben größten deutschen Städten um bis zu 35 Prozent. Bei der künftigen Entwicklung werde es deutliche regionale Unterschiede geben, betont Sven Carstensen, Vorstandsmitglied des Beratungs- und Analyseunternehmens bulwiengesa und Immobilienweiser des ZIA. 


So wird die Zahl der Bürobeschäftigen nach Berechnungen von bulwiengesa deutschlandweit ab 2024 stagnieren und dann abnehmen. In den Großstädten aber soll sie weiter steigen: bis mindestens 2026 um durchschnittlich 1,2 Prozent – in einigen Städten wie Berlin sogar um mehr als 1,5 Prozent jährlich. „Die Tendenz, dass die Unternehmen in großen Zentren bleiben, wird unserer Ansicht nach weiterhin bestehen“, sagt Carstensen. Auch der Zuzug internationaler Arbeitskräfte konzentriere sich hauptsächlich auf die Großstädte, ergänzt BIB-Forscherin Sander.


Das Ziel sollte nicht Barrierefreiheit sein, sondern Barrierearmut.
Tobias Just Wissenschaftlicher Leiter der Irebs Immobilienakademie

Aber wie stark wird der Faktor Home­office nach dem Abebben der Corona-­Pandemie diese Nachfrage beeinflussen? „Unternehmen werden weniger Fläche brauchen, aber auch andere Arten von Flächen“, meint IW-Experte Deschermeier: „Wenn Mitarbeiter mehr von zu Hause aus arbeiten, gibt es weniger Bedarf an Büros mit Schreibtischen, aber dafür an Flächen, an denen sich Mitarbeiter treffen und austauschen können. Das kann im Wettbewerb um Fachkräfte ein Pfund werden, mit dem Unternehmen wuchern können.“ Auch bulwiengesa-Experte Carstensen glaubt: „Durch Homeoffice werden neue Arbeitsplatzkonzepte entstehen.“ Einen Einbruch der Nachfrage nach Büroflächen gebe es in A-Lagen jedoch nicht: „Insbesondere zentrale Lagen sind bisher resilient.“ Carstensens Rat an Investoren: „Qualität geht vor Quantität. Nicht zu großflächig einkaufen und nicht nur auf Single Tenants setzen.“


Das veränderte Arbeitsverhalten ­könne zudem einen steigenden Bedarf an Wohnfläche im ländlichen Raum auslösen, meint Deschermeier: „Pendler werden weitere Strecken in Kauf nehmen.“ Das biete wiederum Chancen für einen neuen Bürotyp, sagt die Immobilienweise Wandzik: „Coworking wird eine Alternative zum Arbeiten von zu Hause aus werden, und das nicht nur für Kreative, sondern in der Fläche.“ 


Zu einem ähnlichen Schluss kommt eine Studie des niedersächsischen Regionalministeriums von 2022. Danach werde auch in ländlichen Regionen der Bedarf wachsen. Carstensen hält dagegen: „Ich glaube nicht, dass Unternehmen in breiter Fläche diese Kosten und diesen Managementaufwand tragen wollen und können.“ So uneinheitlich die Prognosen ausfallen, so bestätigen sie doch alle die Einschätzung von Tobias Just: „Demografie ist ein Faktor, den Investoren in Zukunft nicht unterschätzen dürfen.


Von Claus Hornung


Titelbild: IStockphoto

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