
Lieferkette mit neuen Perlen
Der Bedarf an krisenfesten Logistiklösungen gibt Projektentwicklern im Bereich Logistik- und Industrieimmobilien in ganz Europa Auftrieb. Von Judi Seebus
Die Bilder vom Containerschiff Ever Given, das im März 2021 tagelang im Suezkanal feststeckte und so die wichtigste Seeroute zwischen Asien und Europa blockierte, auf der etwa 10 Prozent des weltweiten Warenverkehrs transportiert werden, haben sich ins Bewusstsein eingebrannt. Sie mahnen eindringlich an die Risiken der Globalisierung, auch wenn der Exodus aus China – der Werkbank der Welt – bereits vor dem Ausbruch von Corona eingesetzt hatte. Die Pandemie verlieh dem Dezentralisierungs- und Regionalisierungsprozess zwar eine neue Dynamik, aber auch steigende Lohnkosten in China und die zunehmenden Unstimmigkeiten mit westlichen Handelspartnern, insbesondere mit den USA, tragen schon länger dazu bei, dass nun immer mehr Unternehmen danach streben, mittels ABC-Strategien („Anywhere But China“) ihre Lieferketten zu entkoppeln. Beachtliche 60 Prozent der US-amerikanischen und europäischen Unternehmen beabsichtigen inzwischen, wenigstens Teile ihrer Produktion von Asien in die eigene Region zurückzuholen. So das Ergebnis einer aktuellen Studie von BCI Global.
Strukturbedingt erhält die Logistik- und Lagerbranche zurzeit in mehrfacher Hinsicht Rückenwind, und davon profitieren die CEE-Märkte.
Strategien zur Neuorganisation von Lieferketten, wie etwa Reshoring, Nearshoring und neuerdings auch „Friendshoring“, verändern die Logistikbranche und die Industrie nachhaltig. Beim Reshoring werden Produktionsstätten aus den Schwellenländern in die Industrieländer zurückgeholt. Nearshoring bedeutet aus europäischer Sicht meist die Produktionsverlagerung in die Länder Zentral- und Osteuropas (CEE). Unter Friendshoring ist zu verstehen, dass westliche Unternehmen ihre Lieferketten so ausrichten, dass sie einen größeren Teil ihrer Vorleistungen aus politisch nahestehenden Ländern beziehen. Patrick Haex, Managing Partner bei BCI Global, plädiert jedoch für eine andere Bezeichnung: „Meiner Ansicht nach spricht man besser von ‚Rightshoring‘, wenn es um die Dezentralisierung von Produktion und Logistik geht.“
Just-in-case-Prinzip erzeugt zusätzlichen Flächenbedarf
Immer mehr Unternehmen stellen ihre klassische Just-in-time-Lagerhaltung auf das krisensichere Just-in-case-Prinzip um. Für Logistik- und Industrieimmobilien bestehen also immer noch vergleichsweise gute Aussichten, auch wenn bei nachlassender Konjunktur einige Nutzer aufgrund steigender Kosten und sinkender Nachfrage Flächen verkleinern oder sogar aufgeben müssen.
Nach Auskunft der Immobilienberatung Savills lag die durchschnittliche Leerstandsquote bei europäischen Logistikimmobilien im 3. Quartal 2022 bei nur 3 Prozent. Gleichzeitig werden zusätzliche Lagerflächen immer noch gesucht. „Die Umstellung von der Just-in-time-Produktion auf das Just-in-case-Prinzip bringt zusätzlichen Flächenbedarf mit sich. Die Kosten für die höhere Lagerhaltung sind niedriger als die Kosten von Produktionsausfällen“, erklärt Stephan Riechers, Leiter Investment Management Logistik bei Union Investment.

Rightshoring-Trend belebt die CEE-Logistikmärkte
Vor allem die Länder Zentral- und Osteuropas könnten vom neuen Rightshoring-Trend profitieren. Das bestätigt auch CTP, den bezogen auf die Bruttomietfläche größten Projektentwickler und Betreiber von Logistik- und Industrieimmobilien Kontinentaleuropas. Sieben CEE-Märkte – nämlich Polen, die Tschechische Republik, die Slowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und Serbien – erfüllen nach Meinung von Maarten Otte, Head of Investor Relations bei CTP, gleich mehrere Schlüsselkriterien, darunter geringe Lohnkosten, gute Rahmenbedingungen, Marktpotenzial und Marktrisiken: „Strukturbedingt erhält die Logistik- und Lagerbranche zurzeit in mehrfacher Hinsicht Rückenwind, und davon profitieren die CEE-Märkte. Ihnen wird im europäischen Vergleich ein überdurchschnittliches reales BIP-Wachstum prognostiziert.“
Speziell in der Tschechischen Republik, in Ungarn, Polen, der Slowakei und Serbien siedeln sich aktuell immer mehr Unternehmen der Automobilbranche an. Dazu gehören auch Hersteller von Elektrofahrzeugen und Fahrzeugbatterien. Wegen des Brexits haben auch einige britische Hersteller ihre Produktion in die Region verlagert. So hat Stannah Stairlifts, ein im Vereinigten Königreich ansässiger Aufzug- und Rolltreppenhersteller, seine Mietflächen im tschechischen CTP-Industriepark Brno Lísen verdoppelt, um dort seine gesamte Fertigung zu bündeln.
Auch der zunehmende Onlinehandel trägt dazu bei, dass immer mehr Logistikimmobilien entstehen. Der Bereich Online hat in vielen CEE-Ländern immer noch eine deutlich geringere Marktdurchdringung (im Durchschnitt unter 10 Prozent) als in westeuropäischen Märkten wie etwa den Niederlanden (circa 20 Prozent) oder UK (über 30 Prozent). Auch günstiges Bauland ist in den CEE-Märkten leichter als in anderen Teilen Europas zu haben, und es besteht Bedarf an Grade-A-Lagerflächen.
Ukraine-Krieg dämpft das CEE-Interesse internationaler Investoren
Die CEE-Märkte befinden sich nach wie vor im Aufwind, doch auch an den etablierteren Logistikmärkten Europas ist die Nachfrage anhaltend stark. Nutzer, die in den nächsten drei Jahren ihre Logistikflächen vergrößern wollen, gehen laut Immobilienberatung CBRE vorzugsweise in die Niederlande, nach Deutschland, Belgien, Italien und Frankreich. „Wegen des Kriegs in der Ukraine richten auch nordamerikanische Investoren den Fokus verstärkt auf westeuropäische Länder“, so René Buck, CEO von BCI Global: „Die geografische Nähe der CEE-Länder zu Russland ist bei Investitionsentscheidungen zunehmend ein Faktor.“
Das in Polen ansässige Unternehmen Panattoni, Europas größter Projektentwickler von Industrieimmobilien und Anbieter von Investitionsmöglichkeiten für institutionelle Investoren, ist in den letzten Jahren stark expandiert, zunächst in andere CEE-Märkte und dann nach Westeuropa, vor allem nach Deutschland, aber auch nach Frankreich, Italien, Spanien und in die Niederlande. Zuletzt erfolgte mit dem Kauf von 121 Hektar erstklassigem Bauland im Dreieck zwischen Stockholm, Göteborg und Malmö der Eintritt in den schwedischen Markt. Dabei handelte es sich um den größten Baulanderwerb für Industrie- und Logistikflächen, der jemals in diesem Markt getätigt wurde. In Anbetracht der sehr geringen Leerstandsquoten in Schweden und einer das Angebot weit übersteigenden Nachfrage nach modernen, nachhaltigen Logistikflächen ist das Unternehmen zuversichtlich, dass es mit seinen spekulativen Projekten bei den Nutzern auf großes Interesse stoßen wird.
Die Zahl der Marktakteure steigt und damit der Wettbewerb um Kunden
„Angesichts der steigenden Zahl europäischer Akteure auf diesem Markt ist die Pflege der Kundenbeziehungen wichtiger denn je“, erklärt René Buck von BCI Global. „Big-Box-Logistikzentren unterscheiden sich nur unwesentlich voneinander. Aber der Anbieter der Immobilie kann einen Mehrwert schaffen, indem er sein Know-how aus Wachstumsbranchen wie etwa der Automobil- oder der Pharmaindustrie einbringt und auf die spezifischen Anforderungen der Kunden eingeht“, so sein Fazit.
Von Judi Seebus