Grüne Selbstversorger

Heute Real-Labor, morgen Standard: Innovative Energiekonzepte zeigen, wie Quartiere klimafreundlich werden können. Auch für den Bestand gibt es Lösungen. Von Christine Mattauch

Weitmar hat eine industrielle Vergangenheit – Zechen und Stahlwerke haben den Bochumer Stadtteil geprägt. Ausgerechnet hier steht sie, die Energiezentrale der Zukunft, kurz EZZ. 81 Wohneinheiten wird sie mit Strom und Wärme versorgen, klimaneutral und weitgehend energieautark. Die ersten beiden Gebäude sind bereits am Netz.


Es ist ein Renommierprojekt von Vonovia, komplett aus Eigenmitteln finanziert, wichtig für die ganze Branche. Weil es Energiekonzepte zeigt, die schon heute möglich sind – und in wenigen Jahren eventuell Standard. Für Tobias Hofmann, Leiter Quartierssysteme bei Vonovia, steht fest: „Schon durch die Erfahrungen, die wir bisher gesammelt haben, hat die EZZ ihren Zweck erfüllt.“ 


Auch anderswo entwickeln Ingenieure Lösungen für Quartiere, die sich zu großen Teilen selbst mit Energie versorgen. Etwa in Freiburg-Dietenbach, wo eine Siedlung für 16.000 Bewohner entstehen soll; auf dem ehemaligen Pfaff-Gelände in Kaiserslautern oder in der Neuen Weststadt Esslingen, die nicht nur fünf Wohnblöcke, sondern auch einen Campus mit Hochhaus einbezieht. Das Ziel ist Treibhaus­gasneutralität: Wer Strom und Wärme auf Basis erneuerbarer Energien vor Ort erzeugt, sorgt für einen hohen Wirkungsgrad und vermeidet CO2-Emissionen.


In der Wohnsiedlung Bochum-Weitmar steht Vonovias EZZ – die Energiezentrale der Zukunft. Die Neue Weststadt in Esslingen ist ein nahezu klimaneutrales Stadtquartier mit eigener Versorgungsinfrastruktur.
Vonovia/ Simon Bierwald

Am Bedarf und an den Ressourcen vor Ort orientieren

Noch gibt es dafür keine Standardlösungen. Schon jetzt aber sorgen die Pioniere für einen Innovationsschub, der es denen, die nach ihnen kommen, leichter machen wird. Fotovoltaik, Wärmepumpen, Elek­trolyseur, Wasserstoffspeicher und Brennstoffzelle – für diese Kombination hat sich Vonovia im ersten Schritt entschieden. Grüner Strom deckt dabei nicht nur einen großen Teil des Bedarfs an Elektrizität, sondern auch an Wärme, indem per Elektrolyseur Wasserstoff erzeugt und gespeichert wird. Eine Brennstoffzelle verwandelt ihn später zurück in Strom und Wärme. Dabei muss es nicht bleiben. „Die EZZ funktioniert wie ein Baukasten“, erklärt Hofmann, „wir können Technologien jederzeit ein- und ausbauen.“ Geothermie zum Beispiel. Es ist ein Real-Labor, dessen Erkenntnisse Vonovia bei weiteren Modernisierungen nutzen wird – bis 2050 will das größte deutsche Wohnungsunternehmen seinen Bestand nahezu klimaneutral gestalten.


Anderswo wird Abwärme aus umliegender Industrieproduktion verwendet oder, vor allem auf dem Land, Energie aus Wind oder Biomasse. In Städten kann der Anschluss an ein dekarbonisiertes Fernwärmenetz eine Alternative sein, schließlich ist Autarkie kein Wert an sich. „Man muss sich am Bedarf des Quartiers und an den Ressourcen vor Ort orientieren“, sagt Gerhard Stryi-Hipp, Leiter der Forschungsgruppe Smart Cities am Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE. „Eine Blaupause gibt es nicht.“


Die Immobilienwirtschaft gewinnt eine neue Rolle als Betreiber von Geschäftsmodellen rund um Energie.
Jörg Kruhl, Vertriebschef, Ampeers Energy

Während die Planer im Neubau die Chance haben, von vornherein alles richtig zu machen, liegt die große Herausforderung im Bestand. Zwar gibt es Bausteine, die sich nach Ansicht von Experten nahezu überall empfehlen: zum Beispiel hohe Gebäudeeffizienz, großflächige Fotovoltaik, Wärmepumpen. Die Umrüstung jedoch kann aufwendig sein. Wer etwa bei der Wärmeversorgung auf eine zentrale Lösung umstellt, muss nicht nur eine Energiezentrale bauen, sondern auch Leitungen verlegen. Ladesäulen für Elektroautos erfordern dicke Stromkabel. „Wichtig ist eine gute Planung, von Anfang an“, sagt Konrad Jerusalem, Geschäftsführer der Düsseldorfer Immobilienberatung Argentus. Dabei sind Quartierslösungen in der Regel effizienter als gebäudebezogene. Sie sorgen für Synergien bei Anschaffung und Betrieb. Auch Bedarfsschwankungen lassen sich besser ausgleichen – etwa wenn überschüssige Solarenergie zum Aufladen ganzer Flotten von Elektroautos verwendet wird. Oder wenn sich, in einem gemischt genutzten Quartier, unterschiedliche Verbrauchsrhythmen von Wohnen und Arbeiten teilweise ausbalancieren. 


Quartierslösungen sind meist effizienter als gebäudebezogene

Ohnehin müssten verschiedene Nutzungsarten in Quartieren viel stärker verknüpft betrachtet werden, ist Lars Scheidecker überzeugt. Der CEO der Union Investment Real Estate Digital GmbH und sein Team entwickeln mit „Run this place“ ein digitales Ökosystem für Gewerbeimmobilien. „Wenn einzelne Gebäude stärker miteinander und in das jeweilige Umfeld integriert werden, ergeben sich Synergien, die dem ganzen Quartier und seinen Nutzern zugutekommen“, sagt Scheidecker. Als Beispiele führt er das E-Charging oder die flexible Nutzung temporär freier Flächen an. „Beides und noch viel mehr lässt sich in Gestalt eines digitalen Ökosystems auf die Situation vor Ort zuschneiden.“


Je komplexer die Komponenten, desto wichtiger die Orchestrierung: Wann etwa wird Strom direkt an Mieter durchgeleitet, wann ein Speicher aufgefüllt? Um das zu steuern, arbeitet Vonovia in Bochum-Weitmar mit Ampeers Energy zusammen, einem Münchner Start-up, das ein digitales Energiemanagement-System entwickelt hat, mit künstlicher Intelligenz, die sich laufend selbst optimiert und Wetterprognosen ebenso einbezieht wie das Nutzerverhalten. Mag die Welt für Bestandshalter, Projektentwickler und Investoren früher einfacher gewesen sein – Ampeers-Vertriebschef Jörg Kruhl wirbt für die positiven Seiten: „Die Immobilienwirtschaft gewinnt eine neue Rolle als Betreiber von Geschäftsmodellen rund um Energie.“ Grundsätzlich lässt sich, gegebenenfalls über andere Gesellschaften, etwa Solarenergie vom Dach als Mieterstrom vertreiben, auch wenn Vorschriften und steuerliche Hürden das derzeit noch erschweren. Das bringt zusätzlichen Erlös – und Mietern günstige Nebenkosten.


Manche Energieversorger sehen durch die Entwicklung ihr Geschäft bedroht. Andere begreifen den Wandel als Chance und bieten per Contracting die Errichtung der Infrastruktur an. „In diesem Bereich liegen die Margen viel höher“, sagt Berater Jerusalem. Im schwäbischen Sigmaringen planen die örtlichen Stadtwerke auf einem früheren Kasernengelände sogar selbst ein nahezu energieautarkes Quartier, mit Sonnenenergie, Wärmepumpe, Blockheizkraftwerken, Holzhackschnitzelkessel und Wärmespeichern. 3.300 Tonnen CO2 sollen so eingespart werden.


Noch sind viele der neuen Technologien teurer als konventionelle. Fotovoltaik und Wärmepumpe etwa kosten mehr als Brennwertkessel. Einsparungen kommen erst im Betrieb, etwa wenn der Bezug von Gas ersetzt wird durch selbst erzeugten grünen Strom. In vielen Projekten wird die Rechnung daher nur aufgehen, wenn Entwickler zu Vorleistungen bereit sind – und Investoren sie honorieren. Fraunhofer-­Experte Stryi-Hipp hält das für alternativlos: „Wer Klimaneutralität nicht zumindest anstrebt, riskiert, ‚Stranded Assets‘ zu produzieren.“ 


Schon bald könnte die sogenannte grüne Inflation Selbstversorger begünstigen: Der ökologische Umbau der Wirtschaft erhöht zunächst den Bedarf an Energie und damit auch deren Preis. „Die Kosten-Nutzen-Rechnung für neue Konzepte wird sich daher zugunsten dieser Konzepte verschieben“, sagt Jan von Mallinckrodt, Head of Sustainability der Union Investment Real Estate GmbH. Auch bei Vonovia findet man, dass zur Kosten-Nutzen-Analyse der Blick in die Zukunft gehört. „Wir investieren in die Wirtschaftlichkeit von morgen“, sagt Hofmann. 


Wenn Gebäude stärker miteinander integriert werden, ergeben sich Synergien, die dem ganzen Quartier zugutekommen.
Lars Scheidecker, CEO, Union Invest­ment Real Estate Digital GmbH

Lerneffekte und steigende Nachfrage treiben Innovationen voran

„Erste echte Ergebnisse“ aus dem Betrieb der EZZ erwartet Vonovia für den Winter 2022. Lerneffekte jedoch gab es schon zuvor, etwa bei der Nahwärmeversorgung, denn ein Teil der Gebäude war aufgestockt worden. Während im Neubau vergleichsweise niedrige Temperaturen reichen, brauchen die alten Heizkörper eine höhere Vorlauftemperatur. Die Ingenieure lösten das Problem durch ein Niedertemperatur-Nahwärmenetz mit Übergangsstationen und solarbetriebener Hochleistungswärmepumpe. Die aufgestockten Wohnungen werden direkt über das Netz versorgt, für die bestehenden wird die Temperatur von 40 auf 80 Grad angehoben. „Damit haben wir einen ersten echten Mehrwert geschaffen“, sagt Hofmann. Beim Wärmebedarf operiere die Siedlung künftig „zu 100 Prozent autark“, ein Zukauf von Gas sei nicht mehr erforderlich. 


Nicht jedes Wohnungsunternehmen hat die Finanzkraft, dem Beispiel des Branchenprimus zu folgen. Es werde standardisierte Lösungen geben müssen, glaubt Ampeers-Manager Kruhl, „anders wird die schiere Zahl an Modernisierungen nicht zu schaffen sein.“ Von Mitte 2022 an will seine Firma eine neue Dienstleistung anbieten, „Dekarbonisierung as a Service“. Dabei werden Basismodelle für Siedlungstypen auf die konkrete Situation angepasst. Für Unikate aber, wie es viele Büro- und Gewerbequartiere sind, wird es auch künftig individuelle Lösungen geben müssen.


Dabei steht die Entwicklung erst am Anfang, Nachfrage treibt Innovation. In Wien werden die Wohntürme TrIIIple und Austro Tower über ein Flusskraftwerk mit Wärme und Kälte versorgt. Erdacht hat das Konzept der Wirtschaftsingenieur Andreas Glatzl, Bauherrin war Soravia. 


Und in New York präsentierte das Star­architekturbüro SOM kürzlich ein Konzept für Hochhäuser, bei denen riesige Algentanks CO2 binden. Utopisch? Vielleicht. Doch das hätten vor 20 Jahren auch viele über eine Energiezentrale der Zukunft in Weitmar gesagt.


Von Christine Mattauch


Titelbild: INDEED Photography, RVI GmbH

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