
Mit nur knapp 900.000 Einwohnern kann es Amsterdam nicht mit den Weltmetropolen aufnehmen. Aber wenn es um den Aufbau einer grünen Wirtschaft geht, ist die Stadt ganz vorn mit dabei. Von Judi Seebus
Amsterdam will mithilfe eines vielfältigen Ansatzes bis 2050 klimaneutral werden. So haben im November 2021 die 32 Gemeinden der Metropolregion im Rahmen eines Green Deal vereinbart, dass ab 2025 für mindestens 20 Prozent aller Wohnungsneubauten Holz oder andere organische Baustoffe verwendet werden sollen. Amsterdam selbst kann bereits mit dem Wohnturm Haut aufwarten, der in den Niederlanden als höchstes Wohngebäude in Holzbauweise gilt und auch weltweit zu den höchsten seiner Art zählt.
Mit Kreislaufsystemen sollen in der Bauwirtschaft zudem ein möglichst geringer Ressourcenverbrauch und eine hohe Recyclingquote erzielt werden. Es handelt sich dabei um nur eine von mehreren Strategien, mit denen Amsterdam die CO2-Emissionen senken will. Der Stadtrat beabsichtigt, im Rahmen eines Innovationsprogramms 20 Kreislaufsysteme für Produkte und Rohstoffe zu etablieren und unter anderem Abfall für die Erzeugung von Strom, Fernwärme und als Baumaterialien zu nutzen. Diese Stadt, die sich so beschaulich gibt, ist auf internationaler Ebene ein echtes Musterbeispiel für den Aufbau einer grünen Wirtschaft. Das meint jedenfalls Lisette van Doorn, CEO des Urban Land Institute Europe (ULI): „Amsterdam wächst in vielerlei Hinsicht über sich hinaus. Paris will bekanntlich eine Stadt der kurzen Wege werden. Vieles, was dort angestrebt wird, hat Amsterdam aber schon etabliert, lange bevor dieses städtebauliche Leitprinzip überhaupt populär wurde.“ Aufgrund ihrer Lebensqualität und ihres gut ausgebauten Radwegenetzes ist die Stadt bei jungen Menschen sehr beliebt. Das ist ein enormer Vorteil, wie van Doorn meint: „Die Immobilieninvestoren und Unternehmen folgen heute den Menschen, nicht umgekehrt.“
Ausgleich zwischen Wirtschaftspolitik und Umweltpolitik
Das Urban Land Institute hat in einem aktuellen Bericht die Wirtschaftsfreundlichkeit der Stadt hervorgehoben: Das Geschäftsviertel Zuidas belegt im weltweiten Ranking Platz 15. Darüber hinaus hat Amsterdam von der Tatsache profitiert, dass eine Reihe von Unternehmen im Zuge des Brexits von London auf das europäische Festland gezogen sind. „Nach dem Umzug der Europäischen Arzneimittel- Agentur haben sich beispielsweise diverse Unternehmen der Arzneimittelbranche in Amsterdam angesiedelt“, so die Expertin. Die niederländische Hauptstadt verbindet in einzigartiger Weise Tradition und Moderne. Sie punktet als Stadt der technologie- und innovationsorientierten Branchen und gleichzeitig der Kultur. Sie schafft einen Ausgleich zwischen Wirtschafts- und Umweltpolitik, zwischen Leben und Arbeiten, wie der Stadtplaner Greg Clark kürzlich in einem Webinar des Amsterdam Economic Board darlegte. „In Amsterdam passieren all die Dinge, die gerade am dringendsten in der Welt gebraucht werden“, sagt er.
Unternehmertum, Innovationen und technologieorientierte Wachstumsbranchen wie Cleantech, Foodtech, Lifesciences, E-Commerce und Fintech haben hier einen hohen Stellenwert. Nach Einschätzung des Stadtplaners wird die Stadt mit Anreizen für Start-ups auch weiterhin europäisches und internationales Wagniskapital anziehen. Beim Thema Kreislaufwirtschaft sei Amsterdam ein weltweiter, vielleicht sogar „der“ weltweite Vorreiter. Und die Stadt sei international bekannt als Hotspot für Start-ups und stehe auf der Liste der bedeutendsten europäischen Standorte für Unicorns auf Platz 3, so Clark weiter.

Mehrere Initiativen sollen Arbeitskräfte für Wachstumsbranchen anlocken
Kürzlich hat Amsterdam mehrere Initiativen gestartet, um Arbeitskräfte für den IT-Sektor und andere Wachstumsbranchen anzulocken. Dazu gehört zum Beispiel Techconnect, eine Partnerschaft mit den Unternehmen Booking.com, Tomtom und Rabobank. An sogenannten Techgrounds – oder Hubs – sollen Studierende und Arbeitnehmer aus benachteiligten Stadtvierteln für die boomenden Branchen gewonnen werden, wobei die Initiative Tech Me Up Finanzmittel für Ausbildung und Umschulung zur Verfügung stellt. Ein weiteres Beispiel ist Hydrogen Hub, eine Public-Private-Allianz zwischen Stadt- und Provinzbehörden, dem Amsterdamer Hafen, dem Flughafen Schiphol, örtlichen Energieversorgern und Stahlunternehmen. Gemeinsam wollen sie den Umstieg auf den Energieträger Wasserstoff vorantreiben und die Weichen stellen für die CO2 freie Stahlproduktion und einen umweltfreundlichen See- und Luftverkehr. Mit einer gut ausgebauten regionalen Infrastruktur für die Energieversorgung und als ein weltweit führender Standort für Wasserstoff-Forschung bringt die Stadt beste Voraussetzungen für ein solches Vorhaben mit.
Für die erweiterte Metropolregion, zu der auch Den Haag, Rotterdam, Utrecht und Eindhoven gehören, ist Amsterdam ebenfalls von vorrangiger Bedeutung. „Diese fünf Städte sind eng miteinander verflochten. Sie ergänzen sich und sind voneinander abhängig“, betont Clark. „Es gibt nur wenige Orte auf der Welt, die derart begünstigt sind. Die Zusammenarbeit innerhalb der sieben Millionen Einwohner starken Metropolregion sowie innerhalb des Großraums Amsterdam mit seinen drei Millionen Einwohnern bringt vielfältige Vorteile für Bildung, Konnektivität, Innovationen und eine gezielte Förderung der Lebensqualität.“
Eine gute Infrastruktur hat einen enormen gesellschaftlichen Nutzen, vor allem in Anbetracht des hohen Bedarfs an erschwinglichem Wohnraum.
Bezahlbarer Wohnraum bleibt knapp, ein Gesamtkonzept fehlt bislang
In sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht hat Amsterdam viel zu bieten. Nur die Bereitstellung von bezahlbarem Wohnraum stellt die Stadt vor große Herausforderungen. Anders als die meisten anderen Städte Europas verfügt sie über beachtliches Grundeigentum, das ihr einen großen Gestaltungsspielraum bietet. Aber wie in den Niederlanden allgemein üblich verfolgt sie eine eher isolierte Wohnungsbaupolitik.
Dazu ULI-Expertin van Doorn: „Es fehlt ein Gesamtkonzept, das nicht nur den Wohnungsbau, sondern auch die Gewerbeansiedlung und den Infrastrukturausbau umfasst. Dann könnte auch die Privatwirtschaft mit ins Boot geholt werden, und die geringeren Renditen im sozialen Wohnungsbau können durch lukrativere Gewerbeprojekte ausgeglichen werden.“ Als Beispiele nennt sie Wien und Kopenhagen, wo langfristige Visionen für die Entwicklung beziehungsweise Wiederbelebung größerer Teile der Stadt erarbeitet wurden. Auf großen Flächen können zusammen mit privatwirtschaftlichen Partnern leichter Mischnutzungskonzepte umgesetzt werden, die günstigen Wohnraum, Büroflächen, Grünanlagen, Parks, Schulen und Spielplätze einbeziehen. In Amsterdam fehle es aber an einem solchen integrierten Ansatz.

Amsterdams Geschäftsviertel Zuidas ist ein Wirtschaftsstandort von Weltrang
Die Stadt benötigt auf gesamtstädtischer Ebene geeignete Planungsstrategien, um eine mittlere Verdichtung mit hoher Funktionalität zu erreichen, wie es im Geschäftsviertel Zuidas bereits geschieht. Zuidas ist ein Wirtschaftsstandort von Weltrang, der eine attraktive Nahversorgung bietet. Jetzt sollen dort Wohnungen im gehobenen, aber auch im preisgünstigen Segment entstehen. Van Doorn spricht hierbei von einem wichtigen Schritt.
Entscheidend sind Verdichtung, Mischnutzung und Infrastrukturausbau
Verdichtung und Mischnutzung sind nach van Doorns Ansicht entscheidende Strategien, ebenso der Infrastrukturausbau, der den Immobilienprojekten vorausgehen müsse. Diese drei Faktoren ermöglichen ein tragfähiges Geschäftsmodell. Verdichtung und Multifunktionalität führen zu einer intensiveren Nutzung des Raums und damit zu rentableren Investitionen. Dadurch werden auch die Verkehrsinfrastruktur und die soziale Infrastruktur bezahlbar.
Ein Beratungsausschuss des ULI hat der Stadt diese dreigliedrige städtebauliche Strategie auch für die Umgestaltung des 650 Hektar großen Hafenviertels Amsterdam Haven-Stad vorgeschlagen, ein ambitioniertes Vorhaben zur Entwicklung eines der größten innerstädtischen, gemischt genutzten Wohnviertel Europas. Für die Anbindung dieses neuen Viertels an das Stadtzentrum und die übrige Metropolregion fehlt noch die Infrastruktur.

Gleiches gilt für den Norden Amsterdams, der sich seit der Eröffnung des Filmmuseums Eye am Ufer des Flusses Ij dynamisch entwickelt. Es gibt zwar eine Metrolinie, die den Amsterdamer Norden mit dem Geschäftsviertel Zuidas verbindet, aber vom Bahnhof Amsterdam Centraal aus kann man das gegenüberliegende Flussufer nur mit der Fähre erreichen.
Problematisch bei großen Infrastrukturprojekten sei unter anderem, dass bei der Finanzierung neben den städtischen Behörden auch andere Instanzen mitentscheiden, meint die Expertin. So prüft die niederländische Regierung die Kosten derartiger Vorhaben, berücksichtigt aber Kennzahlen wie etwa Wirtschaftswachstum und soziale Gerechtigkeit dabei nicht. Öffentlich-private Finanzierungsmodelle, wie sie unter anderem in Großbritannien und Dänemark gängig sind, wären vielleicht auch für Amsterdam interessant. „Eine gute Infrastruktur hat einen enormen gesellschaftlichen Nutzen, vor allem in Anbetracht des hohen Bedarfs an erschwinglichem Wohnraum. Amsterdam muss in dieser Hinsicht groß denken und für die nächsten Jahrzehnte planen“, so die ULI-Chefin.
Von Judi Seebus