Plattform mit Potenzial

Die Kooperation mit unterschiedlichen Akteuren auf einer gemeinsamen Plattform bietet Immobilienunternehmen große Chancen. Als eines der ersten Unternehmen der Branche setzt Union Investment ein solches digitales Ökosystem um. Von Christian Hunziker

Wenn Menschen heute ein Auto kaufen, erwerben sie in vielen Fällen nicht nur ein Fortbewegungsmittel, sondern ein Gesamtpaket aus Fahrzeug, Service und Angeboten anderer Unternehmen. Sie können sich zum Beispiel über die in den Wagen eingebaute künstliche Intelligenz Amazon Alexa über Sportergebnisse informieren, sie können ihre Smart-Home-Anwendungen vom Auto aus steuern, und sie können auch die Weiterfahrt mit der Bahn oder dem Leihfahrrad organisieren. „Im Mittelpunkt“, heißt es bei BMW, „stehen der Kunde und seine Ansprüche an zeitgemäße Mobilität.“ Toyota bezeichnet sich explizit nicht mehr als Autobauer, sondern als Mobilitätsdienstleister, und Volkswagen hat sich sogar zum Ziel gesetzt, „das größte digitale Ökosystem der Automobilbranche“ zu entwickeln. Dieser Begriff des digitalen Ökosystems orientiert sich am US-Wirtschaftswissenschaftler James F. Moore, der 1993 seine Theorie des Business-Ökosystems veröffentlichte. Heute versteht man unter einem Ökosystem laut Thomas Heinatz, Managing Director bei der Beratungsgesellschaft Accenture, „eine Partnerschaft mit internen und vor allem auch externen Partnern mit dem Ziel, die Digitalisierung des Geschäftsmodells zu beschleunigen“. Als wesentlich gilt dabei das Plattformprinzip, wie man es von den Internetgrößen wie Amazon und Alibaba kennt: Auf einer Plattform werden Produkte und Dienstleistungen unterschiedlicher Anbieter gebündelt.


Dass derzeit branchenübergreifend über solche digitalen Ökosysteme diskutiert und geforscht wird, hängt mit den gesellschaftlichen und technologischen Umwälzungen zusammen. Die Digitalisierung stellt hergebrachte Geschäftsmodelle infrage, die Anforderungen der jungen Generation an ihre Wohn- und Arbeitsräume ändern sich grundlegend, und der Klimawandel fordert alle langfristig ausgerichteten Unternehmen heraus. Wie einschneidend die Veränderungen sind, macht Jürgen Meffert klar, der als Senior Partner bei McKinsey eine Studie über digitale Ökosysteme („Aus Konkurrenten werden Partner“) mitverfasst hat. „In den letzten zehn Jahren haben wir gesehen, wie Amazon, Alibaba und andere Tech-Giganten in den B2C-Bereich vorgedrungen sind“, stellt er fest. „Jetzt passiert im B2B-Bereich etwas ganz Ähnliches: Die Technologiefirmen investieren massiv ins B2B-Geschäft und greifen damit etablierte Marktteilnehmer an.“ Die Herausforderung verdeutlicht Meffert am Beispiel der Maschinenbauindustrie. Dort verschiebt sich die Wertschöpfung nach seinen Worten vom eigentlichen Produkt in Richtung Service. „Im Maschinenbau beispielsweise kommen nur 30 Prozent der Erlöse von Maschinen und Anlagen“, erläutert er. Der Großteil des Profits resultiere hingegen aus dem Aftersales- und Verbrauchsgütergeschäft – und genau diesen Teil hätten die Angreifer im Blick.


Viele Akteure sitzen auf ihrem Herrschaftswissen und sind nicht bereit, dieses zu teilen. Das behindert die Entwicklung von Ökosystemen.
Thomas Heinatz Managing Director bei Accenture

Auch in der Finanzwelt sind die Akteure aufgewacht, wie Jana Ebner feststellt. „Banken gehen vermehrt Partnerschaften ein und verfolgen zunehmend den Ansatz eines digitalen Ökosystems“, sagt die Expertin, die als Consulting Manager Digital Business bei der Beratungsgesellschaft TME arbeitet. Auch sie führt die Anstrengungen auf die große Konkurrenz durch FinTechs und branchenfremde Anbieter von Finanzdienstleistungen zurück. „Deshalb“, betont Ebner, „muss eine Bank wieder mehr Relevanz gewinnen, was ihr dann gelingt, wenn sie einen Rundum-Service anbietet.“


Und die Immobilienwirtschaft? „Auch sie muss sich bewusst sein: Wenn sie ein Tech-Gigant in den Blick nimmt, kann sie ganz schnell in Bedrängnis geraten“, prophezeit Jürgen Meffert. Dennoch haben digitale Ökosysteme in der Immobilienbranche noch Seltenheitswert. Zu den Vorreitern zählt Union Investment. Die Fondsgesellschaft startete 2018 ihr Projekt Digitales Ökosystem, das im November 2019 die Vorstudie erfolgreich abschloss und im laufenden Jahr erste konkrete Anwendungen realisieren wird. „Die digitale Einbindung von Partnern wird uns in die Lage versetzen, bessere und zukunftsfähige Lösungen für die Anforderungen der Nutzer in Bezug auf die Trends aus New Work und Vernetzung bereitzustellen“, sagt Jens Wilhelm, Mitglied des Vorstandes der Union Asset Management Holding AG. „Nicht zuletzt haben wir bei der Entwicklung der Plattform-Ökonomie auch die Potenziale zusätzlicher Erlösquellen im Auge – zum Beispiel durch gemeinsame Dienstleistungen.“


Quartiere als Keimzelle digitaler Ökosysteme

Dass auf Immobilien spezialisierte Assetmanager wie Union Investment mehrere Trümpfe in der Hand haben, macht ein Vergleich mit der Finanzbranche deutlich. Eine Bank habe bei der Etablierung eines digitalen Ökosystems zwei Vorteile, erklärt Beraterin Jana Ebner: „Sie genießt bei ihren Kunden Vertrauen, und sie verfügt über wichtige Kundeninformationen.“ Beides gilt auch für Immobilienunternehmen. Hinzu kommt als weiterer wichtiger Punkt der Quartiersbezug. Jens Wilhelm jedenfalls ist überzeugt, „dass Quartiere als Orte urbaner Dichte sowie des sozialen Miteinanders mit starker eigener Identität und einer Vielzahl unterschiedlicher Akteure und Nutzungen prädestiniert sind für Vernetzung und Kooperationen“.


Erste Erfahrungen im Hamburger Hotel- und Bürokomplex Emporio sowie im Düsseldorfer Büroviertel Seestern haben laut Wilhelm gezeigt, dass in einem urbanen Mikrokosmos digitale Plattformen besonders erfolgversprechend sind. „In diesem Kosmos bewegen sich zahlreiche Akteure wie Mieter, Property und Facility Manager, aber auch Handwerker, Paketzusteller, Lieferanten und andere Dienstleister“, stellt Wilhelm fest. Das bietet die Möglichkeit, dem Kunden zahlreiche Angebote zu unterbreiten, die ihm die Arbeit erleichtern und gleichzeitig dem Betreiber der Plattform zusätzliche Erlöschancen eröffnen. Im Vordergrund stehen dabei immer die tatsächlichen Wünsche und Anforderungen der Mieter.


Der 90 Meter hohe Emporio Tower und das Hotel Scandic bilden das Emporio Quartier in Hamburg. Das Multi-Tenant-Ensemble gehört 
zum UniImmo: Deutschland und gilt als urbaner Mikrokosmos. Union Investment ist Eigentümerin und selbst Büromieterin im Hochhaus.
Union Investment / Daniel Sumesgutner
Die digitale Einbindung von Partnern wird uns in die Lage versetzen, bessere und zukunftsfähige Lösungen bereitzustellen.
Jens Wilhelm Mitglied des Vorstandes der Union Asset Management Holding AG

Um die Erfolgskriterien beim Aufbau eines digitalen Ökosystems herauszufinden, lohnt sich ein branchenübergreifender Blick. Die Beratungsgesellschaft Accenture Strategy hat deshalb weltweit Unternehmen, die sich selbst als Ökosystem-Champion verstehen, nach ihren Rezepten gefragt. „Unsere Untersuchungen haben gezeigt, dass es drei Erfolgsfaktoren gibt“, fasst Thomas Heinatz von Accenture die Ergebnisse zusammen: „den Austausch von Daten, die Gewinnung von Talenten und die Entwicklung einer gemeinsamen Wertschöpfungsplattform“. Entscheidend sei dabei die Bereitschaft zur Kooperation, betont Heinatz. „Viele Akteure sitzen auf ihrem Herrschaftswissen und sind nicht bereit, dieses zu teilen“, kritisiert er. „Das behindert die Entwicklung von Ökosystemen.“ Wichtig, ergänzt Jana Ebner von TME, sei es allerdings, bei der Auswahl der Partner sorgfältig vorzugehen. „Sobald ein Partner in Verruf gerät“, begründet sie dies, „wirkt sich das auf das ganze Ökosystem aus.“ Außerdem unterstreicht die Expertin die Bedeutung der Daten: „Wer in einem digitalen Ökosystem die Daten hat, hat die Macht.“


Das wirtschaftliche Potenzial von digitalen Ökosystemen ist auf jeden Fall immens. Die Accenture-Studie beziffert dieses Potenzial in den nächsten zehn Jahren auf weltweit 87 Billionen Euro. Auch wenn sich diese Summe wohl nur schwer verifizieren lässt, ist für Jens Wilhelm von Union Investment eines klar: „Ob es Mobilität, Sicherheit oder Energiemanagement betrifft – die Immobilienwirtschaft braucht den Schulterschluss mit anderen Industrien. Das digitale Ökosystem schafft genau diese Verbindungen und kreiert für unsere Kunden tragfähige Lösungen über den Tellerrand hinaus.“


Von Christian Hunziker


Titelbild: shutterstock

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