
Bewegliche Bauteile bieten in Gebäuden spektakuläre visuelle Effekte und großen Nutzerkomfort. Die Kunst der Anpassungsfähigkeit überzeugt aber auch mit höherer Energieeffizienz. Von Elke Hildebrandt
Ein gigantisch großer Raubvogel könnte die architektonische Sensation der Dubai World Expo 2020 werden, die am 20. Oktober dieses Jahres beginnt. Star-Architekt Santiago Calatrava baut für die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) einen 15.000 Quadratmeter überdeckenden Expo-Pavillon, dessen Silhouette an einen fliegenden Greifvogel erinnert. Und tatsächlich soll die überdimensional errichtete Flugstudie mithilfe einer komplizierten Konstruktion die Flügel bewegen können. Der futuristische Falken-Pavillon ist eine Hommage an die Falknerei, die eng mit der Geschichte des Expo-Gastgeberlandes verbunden ist. „Der Pavillon wird eine der größten Ikonen der Expo sein“, sagt Reem Ebrahim Al Hashimy, Staatsministerin für internationale Zusammenarbeit der VAE und Generaldirektorin der Expo 2020 Dubai. Wirklich abheben, das kann das Gebäude natürlich nicht. Aber der nach LEED Platin konzipierte Baukörper steckt voller kinetischer Raffinessen.
Kinetisch heißt vor allem eins: beweglich sein. Weltweit entwickeln Ingenieure schieb-, dreh- und klappbare Gebäudeteile mit individuellen Funktionen für Außen- und Innenbereiche von Gebäuden und erzeugen damit eine magische Wirkung in der ansonsten statischen Architekturwelt. Prominente Beispiele sind vor allem in kulturell und sportlich genutzten Großbauten zu finden. Das im April 2019 eröffnete Kulturzentrum The Shed in New York City beeindruckt etwa mit einer überdimensional großen Membran, die sich als Außenhülle auf Schienen bewegen lässt. Wird die imposante zweite Haut über dem achtstöckigen Basisgebäude ausgefahren, entsteht an der Seite ein zusätzlicher überdachter Raum für Großveranstaltungen. Nicht weniger spektakulär ist das Kunst- und Kulturzentrum Fosun Foundation in Schanghai. Das Gebäude ist von einer mehrschichtigen beweglichen Röhrenfassade umgeben, die wie ein Vorhang konstruiert ist. Die unterschiedlich langen, an Bambusstäbe erinnernden Röhren gleiten in drei unabhängig voneinander drehenden Schienen um die Fassade herum und erzeugen bezaubernde, wechselnde Kulissen.
Dynamische Kräfte machen Immobilien mobil
Im Sportbereich setzt kinetische Architektur ebenso beeindruckende Akzente. Das technische Prunkstück der Sportarena „Auf Schalke“ ist beispielsweise eine 11.000 Tonnen schwere Stahlbeton-Schublade. Durch sie kann der bewegliche Rasen ein- und ausgefahren werden. Und in Atlanta beeindruckt das Mercedes-Benz Stadium mit einem bionischen Dach. Die Konstruktion besteht aus acht monumentalen, dreieckigen Blütenblättern. Diese gleiten auf Schienen, um sich in einer Irisformation zu öffnen und zu schließen.
Kinetik, abgeleitet vom griechischen „kinesis“ für Bewegung, ist eine Disziplin der technischen Mechanik und wird von Architekten nicht nur für Projekte der Superlative, sondern für sehr vielfältige Gebäudenutzungen eingesetzt. Immer geht es darum, Teile von Gebäuden anpassungsfähig gestalten zu können, also die Bewegung von Baukörpern mitsamt der einwirkenden Kräfte steuern zu können. Diese Art von Flexibilität ist für massiv errichtete Bauten keineswegs selbstverständlich. Immobilien gelten schon dem Namen nach als unbeweglich und unveränderlich, quasi als „in Stein gemeißelt“. Statiker sorgen dafür, dass alle Kräfte im Gleichgewicht sind und Bewegung idealerweise nicht stattfindet. In einer Kombination aus Statik und Kinetik lassen sich jedoch die Voraussetzungen schaffen, um Dynamik auch für Gebäude nutzbar zu machen. Kinetische Bauten gelten dank ihrer veränderlichen Konstruktionen als ausgesprochen anpassungsfähig. Das hat viele Vorteile. So können sich die adaptiven Gebäude aus sich selbst heraus baulich verändern, um sich etwa den Bedingungen der Jahreszeiten oder des Lichteinfalls anzupassen, um den räumlichen Bedürfnissen der Nutzer entgegenzukommen oder – wie beim Falken-Pavillon in Dubai – um ein Nationalsymbol zu inszenieren. Nebenbei kann das Schieben, Ziehen, Heben oder Klappen, Falten und Rotieren eine Menge Spaß machen, denn das kreative Potenzial ist unendlich groß, wie Beispiele aus dem Wohnungsbau zeigen.
Im Quadrant House etwa dreht sich die überdachte Terrasse passend zum Sonnenstand vollautomatisch über die Rasenfläche. Der um 90 Grad rotierende Bauteil erfüllt gleich mehrere Funktionen: Raumvergrößerung, Sonnenterrasse und Schattenspender. „Die bewegliche Architektur ist niemals ein Gimmick, sondern erfüllt immer einen Zweck“, erklärt der Architekt Robert Konieczny von KWK Promes. Vorbei scheinen die Zeiten, in denen sich Bewohner einem statischen Gebäude anpassen müssen und alle Änderungen der Neugestaltung bedürfen. Sehr radikal wird diese Philosophie im Sliding House umgesetzt. Das Londoner Architekturbüro DRMM spricht sogar von einer „Verleugnung der statischen Architektur“. Da dem privaten Bauherrn die vorgeschriebene Bauweise zu langweilig erschien, gleitet nun eine 16 Meter lange und 20 Tonnen schwere Hülle aus Lärchenholz auf im Boden eingelassenen Schienen. Die mobile Dach- und Wandverkleidung wärmt im Winter, verschattet im Sommer und kann Innenräume in Außenbereiche verwandeln.
Intelligente bewegliche Gebäudehüllen
Kinetische Gebäude überzeugen nicht nur durch die optische Aufwertung der Immobilie und die zusätzliche Funktionalität zugunsten des Nutzerkomforts. Kinetik kann außerdem einen wichtigen Beitrag zur Nachhaltigkeit von Gebäuden leisten. Beweglich konstruierte Fassaden mit Klimafunktion etwa, die als intelligente Gebäudehüllen mit äußeren Einflüssen interagieren, sorgen für eine Verbesserung der Energiebilanz. „Zwischen digital gesteuerten mechanischen Systemen und selbst agierenden ‚Smart Materials‘ entsteht derzeit eine enorme Bandbreite an Vorschlägen“, sagt beispielsweise Philipp Molter, Professor für Entwerfen und Gebäudehülle an der Technischen Universität München.
Ein Beispiel bieten die Al Bahr Towers in Abu Dhabi. Das besondere Kennzeichen ist die bewegliche, transluzente Fassade, deren dreieckige Elemente sich automatisch öffnen und schließen. Jeder Turm verfügt über rund 2.000 dieser schirmähnlichen und partiell lichtdurchlässigen Bauteile. Die mit Fiberglas beschichteten Dreiecke sind so programmiert, dass sie selbstständig auf die Bewegung der Sonne reagieren, um Sonneneinstrahlung und Blendung zu reduzieren. Das macht auch bei intensiver Lichteinstrahlung und 50 Grad Außentemperatur stark getöntes Fensterglas überflüssig, reduziert so den Einsatz von Kunstlicht und Innenjalousien, verbessert den Einfall des Tageslichts und bietet Nutzern zudem eine bessere Aussicht. Gesteuert wird die intelligente Fassade durch ein Gebäudemanagementsystem. Nach Angaben des Architekten Aedas Interiors konnte der Energieverbrauch in den Türmen im Vergleich zu konventionellen Bauten um rund die Hälfte gesenkt werden.
Im 21. Jahrhundert dürfte das Streben nach Energieeffizienz und Klimaschutz wohl zu den wichtigsten Treibern kinetischer Architektur gehören. Die Entwicklung von künstlicher Intelligenz, Robotik sowie computer- und datengestützten Systemen könnten dem Vorschub leisten. An Vorschlägen mangelt es jedenfalls nicht. Eine von vielen Ideenskizzen ist der futuristische Dynamic Tower des Architekten David Fisher: Sein 420 Meter hoher Wolkenkratzer verfügt über 80 einzeln rotierende Stockwerke mit Windturbinen dazwischen. Dieses außergewöhnliche Hochhaus sollte ursprünglich ebenfalls zur Weltausstellung in Dubai eröffnet werden. Auf die Realisierung dieses beweglichen Wunders der Architektur werden wir aber noch warten müssen.
Von Elke Hildebrandt