Der Charme der Wohngemeinschaft

Coliving etabliert sich als neues Segment in den europäischen Wohnungsmärkten. Der Boom erinnert an die Frühzeit der Coworking-Branche. Wo liegen Chancen und Risiken? Anbieter und Investoren sondieren die Märkte. Von Christine Mattauch

Bis vor Kurzem war der Begriff selbst manchen Fachleuten unbekannt. Und jetzt dies: Rund 100.000 Coliving-Einheiten will die Londoner Immobiliengesellschaft The Collective bis 2025 in der Pipeline haben. Ein Teil des Angebots soll in Deutschland entstehen, „der genaue Split steht noch nicht fest“, sagt Björn Munte, als Director Development mit dem Aufbau des Unternehmens in Deutschland betraut. Der Schwerpunkt der Aktivitäten hingegen schon: Berlin und Frankfurt am Main.


Die Angelsachsen sind nicht die Einzigen mit hochfliegenden Plänen – die Luxemburger Holding Corestate Capital etwa hat angekündigt, innerhalb von fünf Jahren ein Coliving-Portfolio im Wert von 1 Milliarde Euro aufzubauen. Der Boom erinnert an die Frühzeit des Coworking-Segments. Wieder stellen sich Marktteilnehmer die Frage: Ist das ein temporärer Hype oder ein ernst zu nehmender Zukunftstrend? Bislang scheiden sich die Geister – zumal unter dem Begriff ganz unterschiedliche Angebote vermarktet werden, von eher traditionellen Wohngemeinschaften über Studentenapartments bis zu hippen Gemeinschaftshotels. „Die Struktur von privaten Räumen und Zusatzleistungen variiert beträchtlich“, urteilt das Magazin „Coliving Insights“. Das Produkt Coliving ist weniger eine Immobilie als vielmehr ein Lebensgefühl. „Das macht eine Bewertung für Investoren schwierig“, sagt Felix Embacher, Bereichsleiter Wohnen bei der Münchner Analysefirma Bulwiengesa. Es geht nicht nur um eine Bleibe, sondern auch um den Anschluss an Gleichgesinnte und einen gewissen Komfort. Die Zimmer sind chic möbliert und zu einem Pauschalpreis zu mieten, der außer Nebenkosten und WLAN oft auch einen „Community Manager“ und Angebote wie Gym, Coworking Space, Kinoabende, Yogakurse und Grillpartys einschließt. Zielgruppe sind meist jüngere Menschen – Studenten, Berufseinsteiger, Projektmitarbeiter –, aber auch sogenannte junge Senioren zwischen 55 und 65, die vor einem Neuanfang stehen.


Eine Frage der Risikoeinschätzung

Die meisten Coliving-Anbieter konzentrieren sich auf urbane Zentren. The Collective zum Beispiel betreibt in London und New York bislang knapp 2.000 Coliving-Einheiten. Die Medici Living Group wiederum, Coliving-Partner von Corestate, expandiert in Berlin mit der Premiummarke Quarters. Ein ähnliches Konzept verfolgt Homefully, 2015 in Frankfurt am Main gestartet. Die Gründer Sebastian Würz und Bastian Schätzle betreiben inzwischen 800 Zimmer in den sieben Topstädten sowie in Zürich und bauen das Angebot weiter aus. „Diese Angebote werden wahrgenommen“, sagt Simon Dietzfelbinger, Associate Partner bei der Immobilienberatung Drees & Sommer. Schon gibt es eine spezielle Buchungsplattform für Gemeinschaftsunterkünfte, colivme.com. Betreiber ist BNP Paribas. Gegenwärtig seien 23.150 Coliving-Einheiten über Europa verteilt, schätzt JLL.


Der Immobiliendienstleister prognostiziert dem Segment einen raschen Aufschwung: „Coliving wird zu einer Schlüsselgröße in dem breiten Sortiment von Wohnungsangeboten für Stadtbewohner.“ Treiber ist, ähnlich wie beim Coworking, eine Berufs- und Lebenswelt, die immer mehr Flexibilität verlangt und junge Menschen in die Metropolen lockt. „Die weltweite Urbanisierung unserer Gesellschaft ist ein Trend, der sich in den nächsten Jahren noch verstärken wird. Der ohnehin große Wohnraummangel dürfte sich ausweiten“, sagt Corestate-CEO Lars Schnidrig. Wie dynamisch das Segment wächst, zeigt auch der Fonds, den The Collective diesen Herbst gemeinsam mit dem Immobilienmanager DTZ Investors aufgelegt hat: 650 Millionen Pfund wollen sie bei Kapitalgebern einsammeln. Es ist das Exit-Vehikel für die Projekte, die The Collective mit unterschiedlichen Partnern realisiert. „Bei uns muss sich jede Projektentwicklung rechnen“, sagt Munte. Das ist einer der Unterschiede zu Coworking-Anbietern wie Wework, die Flächen lediglich anmieten. Mit solchen Größenordnungen wird Coliving zumindest formal interessant auch für institutionelle Anleger.


Das Segment hat bisher nur eine Marktphase erlebt: den Boom.
Felix Embacher Bereichsleiter Wohnen, Bulwiengesa

Der Immobiliendienstleister prognostiziert dem Segment einen raschen Aufschwung: „Coliving wird zu einer Schlüsselgröße in dem breiten Sortiment von Wohnungsangeboten für Stadtbewohner.“ Treiber ist, ähnlich wie beim Coworking, eine Berufs- und Lebenswelt, die immer mehr Flexibilität verlangt und junge Menschen in die Metropolen lockt. „Die weltweite Urbanisierung unserer Gesellschaft ist ein Trend, der sich in den nächsten Jahren noch verstärken wird. Der ohnehin große Wohnraummangel dürfte sich ausweiten“, sagt Corestate-CEO Lars Schnidrig. Wie dynamisch das Segment wächst, zeigt auch der Fonds, den The Collective diesen Herbst gemeinsam mit dem Immobilienmanager DTZ Investors aufgelegt hat: 650 Millionen Pfund wollen sie bei Kapitalgebern einsammeln. Es ist das Exit-Vehikel für die Projekte, die The Collective mit unterschiedlichen Partnern realisiert. „Bei uns muss sich jede Projektentwicklung rechnen“, sagt Munte. Das ist einer der Unterschiede zu Coworking-Anbietern wie Wework, die Flächen lediglich anmieten. Mit solchen Größenordnungen wird Coliving zumindest formal interessant auch für institutionelle Anleger.


Wie stets, wenn Neues auf den Markt kommt, sind allerdings auch die Risiken beträchtlich. Zum Beispiel, dass unter dem Begriff Coliving kränkelnde Konzepte aufgehübscht werden, etwa schlecht ausgelastete Serviced Apartments. Oder dass die Anbieter Schwierigkeiten haben, geeignete Objekte und Grundstücke zu finden.„Obacht, wenn ein altes Produkt plötzlich gehypt wird“, rät Tilman Gartmeier. Der Gründer und Geschäftsführer des Leverkusener Projektentwicklers Cube Real Estate plant Coliving schon seit 2013 bei Quartieren ein, die vornehmlich Studenten-, Senioren- und kleine Apartments umfassen. 10 bis 30 Prozent der Wohnungen reserviert er dafür, „eine Nische in der Nische“. Allerdings handelt es sich, darauf legt er Wert, um konventionelle Wohngemeinschaften.


Ob die neuen, skalierten Coliving-Geschäftsmodelle langfristig funktionieren? Gartmeier ist skeptisch. „Schäden, Sanierungen und Schadenszuweisungen sind deutlich aufwendiger und komplexer als bei normalem Wohnen.“ Nicht zuletzt hängen die Perspektiven von Coliving wohl davon ab, ob – wie bei Coworking – internationale Unternehmen als Nachfrager auftreten und Einheiten im großen Stil mieten, etwa für temporäre Mitarbeiter. In der Praxis scheint das bisher die Ausnahme zu sein.


Für die Zukunft ist Drees & Sommer-Experte Dietzfelbinger jedoch optimistisch: „In immer mehr Firmen entspricht der Gemeinschaftsgedanke der Unternehmenskultur.“ Viele Unternehmen erkundigten sich bei der Büroflächensuche nach Wohnungen für ihre Mitarbeiter. Als Beimischung in gemischten Quartieren sei Coliving deshalb ähnlich attraktiv wie Coworking. Das größte Risiko freilich ist der Konjunkturzyklus. „Das ganze Apartment-Segment hat bisher nur eine Marktphase erlebt: den Boom“, gibt Analyst Embacher zu bedenken. Erst in einem Abschwung wird sich zeigen, ob hinter der Nachfrage nach Gemeinschaft mehr steckt als die pure Not, ein Dach über dem Kopf zu finden. Zumal die Anfangsbegeisterung vieler Bewohner offenbar schnell nachlässt. „In vielen Fällen versprechen die Konzepte mehr, als sie halten können“, urteilt „Coliving Insights“. Die Wohnung als Rückzugsort zu begreifen ist vielleicht doch so altmodisch nicht.


Von Christine Mattauch


Titelbild: Paula Faraco / Venn, Anja Richter

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